Eine Ansichtskarte aus Kopenhagen steht im Mittelpunkt meines Blogs
von heute. Als Feriengruss ist sie bei mir eingetroffen. Verführerisch
schön mit Aufnahmen wichtigster Orte dieser Stadt und mit einer Foto der
Skulptur von Hans Christian Andersens kleiner Meerjungfrau, dem
Nationalsymbol der Dänen. Noch immer schaut sie wartend und traurig aufs
Meer und berührt alle, die sie sehen.
Auf der Rückseite der Karte, unten im Bereich, der den persönlichen
Grüssen vorbehalten ist, sprach mich die Skizze der Stadtsilhouette mit
den Türmen verschiedenster Gebäude und Kirchen sofort an. Sie zeigt
sich anders als moderne Städte heute erscheinen wollen. Hier weisen alle
Bauten über sich hinaus. Kein Flachdach, kein Wolkenkratzer ist dabei.
Historische Bauwerke geben mir immer den Eindruck, wir könnten ihre
Giebel oder Türme ersteigen, um ins Universum abzufliegen. Locker und
leicht. Ganz anders die modernen „Towers“, deren Dächer eine horizontale
Grenze zwischen dem Materiellen und dem Geistigen ziehen. Oben
angekommen, muss die Decke wie eine Barriere wirken. Ein dickes Brett
über dem Kopf. So empfinde ich ihre abgeschlossene Form.
Zur Silhouetten-Skizze auf der Postkarte gehört rechts unter dem
Adressbereich auch noch eine dazu, die den Hafen mit einem grossen
Schiff markiert. Sie ist für mich in der nachfolgenden Geschichte
ebenfalls wichtig.
Diese Postkarte aus Kopenhagen löste also vielerlei aus, besonders
auch den Wunsch, die Geschichte der kleinen Meerjungfrau wieder einmal
zu lesen. Der Dichter, Hans Christian Andersen, der diese Figur
erschuf, lebte von 1805–1875. Und seine Märchen leben heute noch. Sie
sind voller Spannung, erreichen uns in seelischen Tiefen, wo die
Erfahrungen der Menschheit zu Hause sind. Die Bilder, die sie erzeugen,
sprechen für sich selbst. Wir verstehen sie, ohne dass wir sie
ausführlich deuten müssen.
„Die kleine Meerjungfrau“ ist die Geschichte einer grossen
Liebe, von der der schöne Prinz mit den grossen, schwarzen Augen nichts
weiss. Als sein Schiff im Sturm kenterte, wäre er ertrunken, hätte ihn
die Meerjungfrau nicht aufgefangen und ans Land gebracht. Solange er von
ihr durch die Meeresfluten getragen wurde, waren seine Sinne ermattet,
und als er von der Sonne beschienen, am Strand endlich aufwachte, sah er
seine Retterin nicht. Ausserhalb seines persönlichen Blickwinkels
schaute sie nach ihm aus. Er lächelte alle anderen dankbar an, die ihm
entgegenkamen, nur sie nicht. Er konnte sie nicht sehen.
Diesen einen Aspekt der Geschichte habe ich für meinen Aufsatz
herausgezogen, weil ich gleich danach im Tram eine zwar banale Episode
erlebte, der aber das gleiche Thema zugrunde liegt.
An der Tramhaltestelle Förrlibuck in Zürich versuchte eine Frau
nervös, ihre Fahrkarte dem Billett-Automaten zu entlocken. Sie fütterte
ihn mit reichlich Kleingeld, aber nicht alle Münzen wurden sofort
akzeptiert. Das Tram war eingefahren, Gäste ein- und ausgestiegen und
wäre sicher weitergefahren, wenn nicht eine Frau im Tram die Situation
erfasst hätte. Sie konnte von ihrem Sitzplatz aus mit Knopfdruck die
Türschliessung blockieren und der Frau draussen die Mitfahrt
ermöglichen. Es dauerte eine ganze Weile. Als sie einstieg, seufzte
diese erleichtert und setzte sich auf einen freien Platz. Sie dankte
nicht, wusste nicht, wer ihr geholfen hatte. Sie vermutete vielleicht,
dass der Chauffeur die Situation über den Rückspiegel erfasst habe. Sie
war einfach erleichtert, dass sie jetzt fahren konnte und nur mit sich
selbst beschäftigt.
Ich aber sass der helfenden Frau über den Gang schräg gegenüber und
konnte beobachten, wie enttäuscht sie war. Ihr Mund verzog sich, ihr
Gesicht wurde lang. Sie konnte es nicht verwinden, dass man sie
überging. Sie schien zu denken: Hat diese Person keine Manieren? Danke
hätte sie sagen können. Sie kann froh sein, dass ich ihr geholfen habe.
Ich zwinkerte ihr zu, doch konnte ich sie nicht erreichen. Ihre
Enttäuschung blockierte sie.
In diesem Augenblick erinnerte ich mich an die kleine Meerjungfrau
im Märchen, mit der ich tags zuvor einen glücklichen Ausgang der
Geschichte ersehnt hatte und dachte: Es muss sich um ein Lebensgesetz
handeln, denn wir alle kennen solche Situationen. Wahre Hilfe bleibt oft
unerkannt.
Wie es die kleine Meerjungfrau geschafft hat, über sich selbst
hinaus zu steigen, erzählt Andersen auch noch. Das Märchen ist im
Internet abrufbar.
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