Ort: Primarschule Limmatschulhaus im Zürcher Industriequartier.
Zweitklässler sitzen dem für sie alten, bärtigen Mann gegenüber. Primo, mein Ehemann, wurde eingeladen, über die Schule von einst zu berichten.
Kinder und Lehrerinnen halten sich die Ohren zu, als er zu Beginn auf
einer Schiefertafel kritzelt. So tönte es früher in den Schulstuben.
Schreiben lernte man zuerst mit dem Griffel. Je verkrampfter die
Versuche gemacht wurden, desto grösser der Lärm. Erst später kam das
Heft aus Papier dazu. Und die Tinte, diese Dokumenten sichere
Flüssigkeit, die wir wohl alle einmal verflucht haben. Die Kinder
staunen. Unsere Probleme kennen sie nicht mehr. Die Füllfeder hat sie
alle gelöst. Primo zeigt den Federhalter mit der spitzen Feder und
ebenso das Gefäss mit der Tinte. Er erzählt, wie die Schüler von damals
auf Schuljahresende hin die Pultflächen mit Schleifpapier von
Tintenspritzern befreien und sie neu einwachsen mussten. Er erzählt
auch, dass den Kindern zu Hause das Tintengefäss umfallen und nicht mehr
weg zu bringende Flecken verursachen konnte. In vielen Familien gab es
Schelte wegen Tintenflecken in Tischtüchern und Teppichen. Das waren
damals kleinere Katastrophen.
Und er hat Fotos auf Folien von den eigenen Klassenfotos mitgebracht,
damit die Kinder sehen können, dass er am gleichen Ort zur Schule ging.
Die Gruppe, damals 36 Schülerinnen und Schüler, stehen vor dem mit
Steinhauer-Kunst gestalteten Brunnen. Ihn und seine Symbolfiguren
erkennen sie sofort. Aber sie staunen über die Grösse der Klasse von
einst. Die ihre umfasst nur noch 16 Personen, Kinder aus verschiedensten
Kulturen.
Ein Zufall: Auch unsere Zweitgeborene kam seinerzeit in eine
Wegmüller-Klasse. Primo wurde im ersten Klassenzug dieser Lehrerin und Letizia
im letzten unterrichtet. Da waren es noch 27 Schülerinnen und Schüler
und bereits 22 aus ausländischen Familien und nur noch 5 Schweizer
Kinder.
Die Foto von 1947 zeigt Buben und Mädchen, die heute als „Kids“
bezeichnet würden, wenn die Jahreszahl zur Foto fehlte. Offene, witzige,
selbstbewusste Persönlichkeiten schauen einen an. Ein Bub könnte ohne
weiteres als Harry Potter durchgehen. 2 Knaben tragen einen Veston (den
„Tschope“), weil die Lehrerin informiert hatte, dass der Fotograf kommen
werde. Wer es nicht vergass, das bevorstehende Ereignis zu Hause zu
melden, kam in den so genannten Sonntagskleidern daher.
Sonntagskleider, äääh, was ist das?
Dann jaulen sie auf, als Primo auf den lustigen Bub hinweist, den er
selber war. Und sofort stellen sich Fragen: Warum tragen diese Kinder
Bergschuhe? Die Foto entstand im Winter. Fast alle Kinder tragen hier
schwere Bergschuhe, das war üblich.
Was sind das für komische Hosen? Knickerbocker. Und die Knaben, die
keine Knickerbocker anhaben, was tragen sie? Kurze Hosen durchs ganze
Jahr und im Winter darunter wollene Strümpfe. Gab es denn noch keine
Jeans? Nein, noch lange nicht.
Warum tragen einige Mädchen eine Schürze? Die Kleider mussten geschont
werden. Eine Schürze aus Baumwolle war einfacher zu waschen als ein
Kleid aus Wollstoff.
Warum tragen 2 Knaben ein Veston? Früher gab es keine eigentliche
Kinderbekleidung. (Diese wurde erst in den 70er-Jahren entworfen und
eingeführt.)
Eine 2. Foto von 1946 zeigt die Klasse im Frühjahr. Einige Knaben tragen
keine Socken, stecken barfuss in den Schuhen. Das wird auch rasch
bemerkt. Warum strickte die Mutter keine Socken? Diese Frage tönt sehr
fordernd.
Eine weitere Foto vom einstigen Schulhof verwirrt zuerst. Heute sind
dort Sandkasten und Spielgeräte installiert. Früher fanden hier
Ballspiele statt. Der Raum sieht jetzt viel kleiner aus und hat doch
seine Masse behalten. Eine weitere Aufnahme kann sofort eingeordnet
werden. Lautstark kommt jeweils die Zustimmung.
Es entwickeln sich noch andere Fragen. Hatten Sie Schwimmunterricht? Ja,
aber nicht im Hallenbad. Nur im See. Wouw! Und zu Hause hatten nicht
alle Familien eine Badewanne. Darum ging man am Samstag ins öffentliche
Bad im Limmathaus und badete dort in einer Badewanne. (Dieses
öffentliche Bad gibt es immer noch.)
Wo schliefen Sie? In der Stube. Die beiden Betten für meinen Bruder und
mich waren tagsüber Sofas. Am Abend bedeckte Mutter diese mit Leintuch
und Bettzeug. Wenn Besuch da war, mussten wir warten, bis dieser weg
ging, damit wir schlafen konnten.
Ein solches Bett haben wir auch, aber im eigenen Zimmer, tönt es aus mehreren Ecken.
Schliefen Sie auch im Pyjama? Nein. Wir kannten nur das Nachthemd. Ein
Hemd, das viel länger war, als das gewöhnliche Männerhemd.
Hatten Sie Fernsehen? Es war noch nicht erfunden.
Hatten Sie Elektrizität? Ja. Dafür mussten wir Münzen in einen Apparat
werfen. Und dann ging manchmal plötzlich das Licht aus, weil wir
vergessen hatten, wieder Geldstücke einzuwerfen.
Ein Mädchen aus dem Balkan sagt dazu, sie kenne das. In ihrem Dorf würde
das Licht oft ausgehen. Sie macht dazu eine abfallende Bewegung. Da
müsse man warten. Auf einmal komme es zurück.
Was mich erstaunt: Es werden keine Fragen nach Strafen gestellt. Z. B.: Mussten Sie auch Strafaufgaben machen?
Das Interesse an der Kleidung ist sehr gross.
Primo hatte sich noch vorbereitet, den Kindern vom weiteren Umfeld
dieses Schulhauses zu erzählen, doch da war die Zeit schon um.
Er wollte ihnen beschreiben, wo die Eisenbahnwagen mit den Südfrüchten
aus Italien ankamen. Wenn beim Ausladen angefaulte Früchte entdeckt
wurden, schnitten freundliche Arbeiter den schimmligen Teil weg und
verschenkten die andere Hälfte einem Kind. Orangen waren damals
exotische Früchte und Luxus. Kein Wunder, dass die Schüler gerne an
diesem Ort herumschlichen.
Zu Primos Erinnerungen gehört auch die Ankunft eines Walfisches auf
offenen Güterwaggons der SBB im Bereich Sihlquai. Gegen ein
Eintrittsgeld durfte er besichtigt werden. Er stank fürchterlich.
Und zu den Zeiten des 2. Weltkrieges musste auch Primo mit seiner Mutter
im Limmathaus jeden Monat die Karte mit den Bons abholen, die die
Familie berechtigte, Brot und andere Lebensmittel einzukaufen.
Und unauslöschlich präsent sind ihm die Kirchenglocken geblieben, die in
der ganzen Stadt läuteten, als der Krieg zu Ende war. Es wurde ihnen
dazu gesagt, dass jetzt überall auf der ganzen Welt – und damit meinte
man wohl in ganz Europa – die Friedensglocken läuten würden.
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