Mittwoch, 3. Mai 2006

Mit Robert Walser und Emil Nolde im Berner Oberland

Robert Walser hat geschrieben: „Wie müde macht dich das Leben, wenn du keinen tragenden, emporhebenden Gedanken, keine Anschauung, Betrachtung kennst, die dich mit den Enttäuschungen, die im Leben liegen, freundlich aussöhnen.“

An dieses Wort denke ich öfters, wenn ich ausfliegen und in der Höhe Übersicht gewinnen kann. Wohl verstehe ich Walsers Worte auch als philosophische Aufforderung, sich den Sinnfragen zu stellen, aber ebenso sind sie mir nahe, wenn ich meinen Alltag für eine Weile verlassen und in die Berge gehen kann. Dann verwirklichen sich beide Seiten seiner Gedanken. Die innere und äussere Sicht weitet sich.

Diesmal geschah das im Berner Oberland in der wohltuend ruhigen Zwischensaison und während des erwachenden Bergfrühlings. Ohne Tourismus-Rummel. Ohne Sensationen, die von Menschen gemacht werden. Zu sehen gab es genug: Seen, Berge und Alpen in vielen Variationen und das Lichtspiel auf sie. Und in Mürren die prominenten schneebedeckten Viertausender Eiger, Mönch und Jungfrau. Aber auch die Matten, denen eben erst die Schneedecke weggezogen worden ist. Die Schmelze, die Bächlein, die sich ihre Wege suchen, kaum sind sie der Starre entronnen. Und die durchsichtig weissen und violetten Krokusse, die zu tausenden erblüht sind. Da dachte ich an Emil Nolde, an sein Gemälde „Der grosse Gärtner“, in dem er jene Kraft darstellte, die alles Wachstum lenkt und aufrichtet.

Beim Anblick der Jungfrau nochmals Bezüge zu Nolde, zu seinen Bergpostkarten von 1894 mit den Silhouetten der Massive. Unter diese gestaltete er Gesichter, mit denen er die Berge personifizierte. Die Jungfrau mit Hut und Schleier, der Mönch als dreister Typ, Eiger als Fabelfigur. Und von der Jungfrau her, vermutlich im Stechschritt marschierend, 3 kleine, selbstbewusste Bergsteiger mit Rucksack und Pickel.

Auch das „Hardermannli“ sei einst ein Mönch gewesen, erfuhr ich aus einer Publikation von „Interlaken Tourismus“. Meine Gastgeberin machte mich schon am ersten Tag auf diese Figur aufmerksam. Fündig wurde ich am Harder, dem Hausberg von Interlaken. Es ist ein wildes Männerantlitz im Felsgestein, von der Natur erschaffen. Von Wald umgeben. Es sind auch weitere Gestalten zu erkennen. Eine Frau? Kinder? Es ranken sich Geschichten und ein Brauchtum um diese Erscheinung. Todesfälle beim Wandern oder Bergsteigen in seinem Hoheitsgebiet würden oft dieser Sagengestalt angelastet, wurde mir erzählt.

Die Legende dazu: Vor langer Zeit verfolgte einmal ein Mönch hoch am Harder ein Unterseener Mädchen, das Holz sammelte. Das Mädchen floh, stürzte aber über eine Felswand hinaus und kam ums Leben. Als Strafe wurde der Mönch zu Stein und blickt seither als „Hardermannli“ auf das Bödeli hinunter. Diese Figur ist nicht zu übersehen. Auch in der Bäckerei in Matten ist sie vertreten. Dort wirbt ein feines, dunkles Harderbrot mit spitzen Ohren für den Aussichtsberg.

Auf den Fahrten der Lütschine entlang wurden mir die Wunden der Überflutungs-Katastrophe vom letzten Sommer gezeigt. Keine Foto konnte mir bis anhin das Ausmass dieser Sintflut zeigen. Unglaublich der Platzanspruch der verheerenden Wasser und beeindruckend nun die Aufräumarbeiten, die neue Brücke, die Verbesserungen an den Flussbetten, die gefällten Bäume und Sträucher. Und die Lütschine fliesst heute scheinheilig brav, wie wenn nichts geschehen wäre.

Im Umfeld von Wilderswil beobachtete ich einen Bauer, wie er den Humus liebevoll auf seinem Land verteilte, vielleicht neu auftrug. Sein Feld erschien mir geschunden und blank. Das grosse Wasser hatte offensichtlich die oberste Schutzschicht weggetragen. Und wieder musste ich an Walser denken, an den eingangs erwähnten Text und an den „grossen Gärtner“, der unsere Mitarbeit braucht, um das, was geknickt wurde, wieder aufzurichten. Das gilt auch für Menschen, nicht nur für Pflanzen.

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