Der Zug fährt los. Die alte Maria winkt. Sie hat mich auf den Bahnhof
begleitet. Sie freute sich, dass ich sie besuchte und ihr zuhörte, wie
ihr Leben war und ist. Sie zeigte mir Orte, wo Primos Vorfahren lebten
und erzählte spannende Geschichten.
Nun bin ich wieder allein, freue mich auf die Heimfahrt.
Eisenbahnfahrten sind für mich Erholung und eine Form von Meditation.
Nur auf die Landschaft schauen, wie sie vorbeizieht, und wissen, dass
sie doch stillsteht, tut mir gut. Ihren Formen und Linien folgen,
einzelne Bäume bewundern, die Farben und Lichteinfälle aufnehmen, das
ist Glück für mich.
Im Nu sind wir in Sargans. Es steigen etliche Leute zu. Zu mir setzt
sich ein klein gewachsener, älterer Mann und grüsst freundlich. Seine
wachen Augen signalisieren Kontaktfreude und Offenheit. Ich spüre, dass
er mit mir plaudern will. „Oh nein!“, denke ich. Ich möchte auch den
Rest der Heimfahrt mit der Landschaft und ihren Bergen allein geniessen,
meine Ruhe haben.
Der Mann achtet nicht auf meine zurückgezogene Haltung, gibt nicht
auf, auch wenn ich seine Fragen äusserst knapp beantworte. Aber bald
einmal bewundern wir zusammen das, was die Fahrt uns bietet. Wir freuen
uns an Gleichem. Der Mann, der von einer Wanderung heimkehrt, erzählt
dann, wie es ihm heute ergangen ist, wie das Wetter war, wie sich die
Wege präsentierten und wie er Kraft bekomme, wenn er wandere. Als der
heutige Tag beschrieben war, blätterte er in seinen Erinnerungen weiter
zurück und berichtete von einer lange zurückliegenden, gefährlichen
Passüberquerung, wo er den Weg verloren hatte und auf einer Geröllhalde
abstürzte. Unten sei er überraschend von einem unbekannten Mann
aufgefangen worden. Dieser habe ihm auf die Beine geholfen und den
weiteren Weg gezeigt. Glücklicherweise blieb er unverletzt. Ehe er recht
zu sich gekommen sei, war der Retter verschwunden.
Jetzt wird es still in unserem Abteil. Der Gesichtsausdruck des
Erzählers erscheint plötzlich seltsam verklärt. Die Erinnerungen
berühren ihn offensichtlich stark. Er frage sich immer noch, wer ihm
geholfen habe. Dann sagte er: „Da gehst du 50 Jahre deiner Wege, meinst
alles aus dir selbst heraus zu können und die Ziele allein zu finden –
und dann das! Das macht bescheiden.“
Nun ist der Redefluss versickert. Erst kurz vor Zürich höre ich noch,
dass er mit seinem behinderten Sohn im gleichen Haushalt lebe. Eine
grosse Aufgabe für ihn, die ihn immer wieder an Grenzen führe. Darum
schätze er Ausflüge und Wanderungen und die sich ergebenden Kontakte.
Daraus schöpfe er die nötige Zuversicht.
Als wir uns verabschieden, weiss ich, dass ich nun jedes Mal, wenn
ich mit dem Zug zwischen Sargans und Zürich unterwegs bin, an ihn denke.
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