Die kleine Noa aus dem Nachbarhaus bezaubert mich. Knapp 3-jährig,
ist sie schon eine Persönlichkeit. Ich kann ihr von meinem Küchenfenster
her zuschauen, wie sie die Welt entdeckt. Sie lebt mit 3 Geschwistern, 2
Kaninchen und einem Hund. In ihrem Garten tummeln sich auch Katzen aus
der Nachbarschaft. Noa ist auf eine Weise eine geheimnisvolle kleine
Frau. Sie ist offen für alles, was um sie herum geschieht. Sie schaut
einen unergründlich an, spricht nicht viel. Aber sie ruft meinen Namen
und winkt mir immer, wenn sie mich sieht.
Oft beobachte ich, wie sie in ihrem Garten herumgeht, ihre Puppe
ausführt, neben dem Hund herläuft und ihm die Hand auf den Rücken legt.
So sind die Grössenverhältnisse. Ähnlich wie ein Hüterbub, der seine Kuh
begleitet. Sie schaut in den Himmel, auf die Erde, auf Pflanzen, Käfer,
Vögel und bemerkt immer, wenn sich in ihrer Nähe etwas bewegt.
Und das in Zürich. Auswärtige wundern sich, wenn sie hierher kommen,
dass dieser Boden mit so viel Grün, so vielen Bäumen und Sträuchern,
noch zur Stadt gehört.
Diese Idylle verdanken wir dem Sozialarchitekten Hans Bernoulli,
der in den 20er-Jahren innerhalb von 2 Tramstationen 98 Reihenhäuser
baute. Jedes Jahr ziehen zahlreiche Gruppen von Architekturstudenten
durch unsere Gartenwege, um diese berühmte und immer noch wohnliche
Siedlung, die „Bernoulli-Häuser“, kennen zu lernen.
Bernoulli entwarf kleine Häuser, die sich auch der kleine Mann leisten konnte. In einem Aufsatz für die Zeitschrift „Das Werk“
schrieb er 1924: „Ich habe immer wieder die norddeutsche Ecke
aufgesucht, in die sich vor der Springflut der Miethäuser das
mittelalterliche Kleinhaus zurückgezogen hatte. Ich habe mich in Belgien
herumgetrieben, in den beschaulichen französischen Provinzstädtchen; in
Holland habe ich mir die sauberen Puppenhäuser besehen, und vier-,
fünfmal bin ich auch nach England hinübergefahren, jedesmal von neuem
erstaunt, dass das grossmächtige London aus den allerwinzigsten Häuschen
besteht.“
Von diesen Reisen und Eindrücken profitieren wir hier alle.
Bernoulli hat uns eine Siedlung mit menschlichen Massen geschaffen, mit
Freiräumen für Kinder und Erwachsene. Wir Bewohner und Bewohnerinnen
sind uns nahe, haben aber doch unsere eigene Haustür, unseren eigenen
kleinen Garten. Und diese Gärten drücken unsere Individualität aus.
Hier finden Kinder, wenn sie laufen gelernt haben, ihren geschützten
Raum. Zuerst ist es das verriegelte Gartentor, das ihn begrenzt. Später
wird er geöffnet. Das Kind kann weiter auslaufen, zu Nachbarskindern
hinüberhuschen und lernt nach und nach, wo die Gefahren sind.
Ganz anders der Lebensraum des Vogels aus Shanghai, den ich nicht
vergessen kann. Im Frühjahr 2003 sah ich im hiesigen Völkerkundemuseum
in der Ausstellung „In den Strassen von Shanghai, Alltagskultur der
Chinesen 1910−1930“ eine Fotografie eines alten Mannes, der seinen Vogel
im Käfig ins Freie trägt, um ihm frische Luft zu gönnen.
Das Bild verlor keinen Gedanken an die harte Domestizierung. Kein
Gedanke, was ein Gitter ist. Das Bild will ausdrücken, wie gut es der
Herr mit ihm meint. Der Vogel ist sein Gefährte und muss ihn
unterhalten. Vielleicht lebt der Mann allein. Er wird ihm Zuwendung
schenken, aber keine Freiheit, ein Vogel zu sein.
Dieses Bild ist ein Gegenstück zum Bernoullihaus. Es trifft aber auf
viele Situationen zu, die auch wir Menschen so erleben. Das Gitter
unserer Kultur, in der wir aufwachsen, das Gitter von Schule und
Arbeitsplatz, für etliche Menschen auch das Gitter der Verwandtschaft,
Familie, Ehe und auch der Religion.
Auch ich bejahe Ordnungen und Grenzen. Aber sie müssen Wachstum
ermöglichen, also flexibel sein. Sie sollen eine Zeit lang Schutz
bieten, wie ihn Noa erfährt. An diesen Grenzen müssen aber Tore zu finden sein, die den Durchgang ermöglichen. Zur rechten Zeit.
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