Die folgende Erzählung hörte ich im Jahr 1987 im Schweizer Radio. Wolfgang Stendar, der bekannte deutsche Schauspieler, erzählte sie.
Eine persönlich erlebte Geschichte mit einer alten Dame, die er nach einer Vorstellung zum Bahnhof begleitete.
Sie geht mir immer noch nach. Besonders wenn ich irgendwann und ohne einen Zusammenhang mit mir das Wort Kassel höre.
Die Dame erkannte den Schauspieler nicht, als er sich anerbot, sie im Auto zum Bahnhof zu führen. Sie sollte einen bestimmten Zug noch erreichen können. Sie war etwa 70 Jahre alt und ging am Stock. Als sie ihn fragte, ob er auch im Theater gewesen sei, gab er sich als "der König" zu erkennen.
Sie freute sich über diesen besonderen Tag, an dem ihr eine Freilichtaufführung geschenkt, und an dem sie von einem König zur Bahn gefahren wurde.
Sie war Wittwe und hatte im Krieg ihre Söhne verloren. Ein gelegentlicher Theaterbesuch schenkte ihr grosse Freude. Sie lebte in einem Altersheim.
Gerne hätte sie dem Schauspieler etwas geschenkt. Kurz bevor der Zug einfuhr, öffnete sie die Tasche, um die Fahrkarte herauszunehmen. Da sah sie das belegte Brot, das ihr die Wirtschafterin im Heim liebevoll vorbereitet hatte. Sie schenkte es ihm.
Er erzählte diese Episode warmherzig und spannend. Gebannt sass ich vor dem Radio, als eine meiner Töchter die Stube betrat. Und auch sie wurde von den Worten und der darin enthaltenen Menschlichkeit sofort ergriffen und blieb unter der Tür stehen.
Da hörten wir zusammen noch den letzten Satz: "Sie winkte aus dem Zug, der um Mitternacht wegfuhr. Nach Kassel."
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