Als Jugendliche hörte ich ältere Menschen erklären, der Sinn der
Grippe sei, die schwach gewordenen Menschen auszudünnen. Es werde jenen
das Leben ausgelöscht, deren Lebensenergie aufgebraucht sei. Die noch
widerstandsfähigen und jungen Menschen aber würden an ihr erstarken.
Primos Grossmutter starb während der spanischen Grippe 1918,
und meine eigene Mutter später ebenfalls an den Folgen einer Grippe.
War ich jetzt an der Reihe? Solche Gedanken kamen auf mich zu und zogen
dann doch weiter.
Nachdem ich auferstanden bin, spüre ich wieder Energie und Schwung
und rechne jetzt damit, dass ich hier im Leben noch etwas zu tun und
vermutlich auch noch zu lernen habe.
Für mich dauerte die Grippe 3 Wochen. Sie legte mich lahm, machte
mich apathisch, verweigerte meinem Geruchsinn jegliches Signal. Hunger
und Durst gab es nicht mehr. Dass ich Wasser und Tee trank, war von der
Vernunft geleitet. Von ihr kam vielleicht auch der Impuls, den
Enkelkindern beim Singen zuzuhören.
Das Kinderlieder-Archiv besässe ich vielleicht nicht, wenn die
beiden Mädchen in unserer Umgebung aufwüchsen. Die grosse Distanz
unserer Wohnorte hat also auch sein Gutes.
Wenn ich ihre Lieder höre, bin ich ihnen ganz nahe, höre aus ihren
Stimmen Klänge, die mich in andere Sphären entführen. Es ist da eine
Ehrfurcht vor dem Leben, die sich einstellt. Diese Lieder zeichnen das
Wachstum von Mena und Nora und ihre Entwicklung nach. Und
dann die Temperamente der beiden Mädchen und auch die Feinfühligkeit,
wie sie sich in den verschiedenen Sprachen ausdrücken.
(Schweizerdeutsch, Hochdeutsch und Französisch). In diesem Repertoire
befindet sich sogar die Französische Nationalhymne, „La Marseillaise“,
die Mena im letzten Sommer für mich gesungen hat.
Wenn die Mädchen bei uns in Zürich sind, habe ich auch schon dieses
Tonarchiv für sie geöffnet. Während sie zeichneten, hörten sie sich
selber zu. Und auffällig ist jedes Mal, dass dann niemand spricht. Worte
würden etwas von der Atmosphäre zerstören.
Eines der Lieder hat mich diesmal besonders angesprochen. Der Text
ist der Schläfrigkeit gewidmet und erzählt, wie man sie überwindet. Wie
passend für mich. Ich hörte es im rechten Augenblick. So lautet der
Text:
Ach, wie bin ich müde,ach, ich schlaf gleich ein,doch es ist ja heller Tag,wie kann ich müde sein!Jetzt stampf ich mit den Füssenund wackle mit dem Bauch.Ich schüttle meine Schulternund meine Hände auch.Ich strecke meine Arme,die Beine machens nach.Ich klatsche in die Hände.Nun bin ich wieder wach.
Sofort war mir klar, dass mir die Grippe meinen schnellen Schritt
eingeschläfert hatte. Ihn wollte ich wecken. Nach obigem Kinderlied. Es
ist gelungen. Der Schwung ist zurückgekehrt und mit ihm die Energie.
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