Obwohl an meinem Wohnort am Stadtrand von Zürich viele
Mehrfamilienhäuser stehen, haftet ihm immer noch etwas Ländliches an. So
wirkte er auf mich, als ich zur Zeit der Wohnungssuche hier erstmals
ankam. Und so ist es geblieben.
Auch unsere Busstation „Rautihalde“ ist ein ruhiger Ort. Passanten
gibt es keine. Es kommen nur Leute hierher, die mit dem Bus wegfahren
wollen. Wer aber dort ankommt, grüsst die bereits Anwesenden, auch wenn
wir uns nicht persönlich kennen. Und manchmal entsteht auch ein
Gespräch.
Heute Morgen war ich die erste, die sich auf die Bank setzte. Bald
danach kam ein Mann mittleren Alters an. Und dieser begann sofort zu
reden. „Schlecht Wetter?“ war seine Frage. Es hatte geregnet. Ob es mich störe. Nein. Zur Natur gehöre doch ein normales Auf und Ab. „Nicht, wie wenn der Mann zu Hause ist?“
fragte er weiter. Ich hätte nichts zu beklagen. Später dachte ich über
dieses Gespräch, dass der Mann den Puls fühlen wollte. Wie zufrieden die
Menschen hier seien. Es stellte sich heraus, dass er vor 23 Jahren nach
Bolivien ausgewandert und nun in seine Heimat zurückgekommen ist. Und
jetzt gefällt sie ihm nicht mehr.
Er berichtete über seine Eindrücke aus Gesprächen mit jungen
Menschen jetzt in Zürich. Dass hier der Egoismus weit verbreitet sei.
Nur das persönliche Weiterkommen wichtig. Aus allem einen Gewinn ziehen.
Mangelndes Mitgefühl. Dann beklagte er die Unordnung an allen Tram- und
Busstationen. Dass die Zigaretten vor dem Einsteigen einfach fallen
gelassen werden.
Ja, in dieser letzten Aussage stimmte ich zu. Auch mich stört das.
Aber vor allem darum, weil Ertappte immer sagen, es existierten ja
Reinigungsteams von ERZ (Entsorgung und Recycling Zürich), und diese
würden entlöhnt. Für mich ist solches Verhalten frühkindlich. Als
Kleinkind lässt man alles irgendwann fallen, weil der Ordnungssinn noch
nicht entwickelt ist.
Als der Bus, den ich benützen wollte vorfuhr, rief er mir noch nach: „Ich gehe vermutlich wieder zurück.“
Das Gespräch hatte nicht lange dauern können. Jetzt würde ich ihn
noch fragen, wie das Leben in Bolivien gewesen und warum er
zurückgekehrt sei. Und was er denn hier erwartet habe. Seine Welt von
damals? – 23 Jahre sind eine lange Zeit. Äusserer und innerer Wandel,
gewiss auch in der Fremde enorm.
Ich kann mir vorstellen, dass Zürich nach 23 Jahren Abwesenheit vom
Erscheinungsbild her als fremde Stadt wahrgenommen wird. Und wie die
Reaktionen zeigen, hatte der Zurückgekehrte sofort auch einen inneren
Wandel festgestellt. Und dieser scheint ihm nicht zu gefallen. Auch für
uns war und ist er herausfordernd.
Noch immer ist uns eine saubere Stadt lieb, aber nicht alle hier Ansässigen sind bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an die Situation von 1958,
als ich mich für mein Stagiaire-Jahr in Paris vorbereitete. Ich wurde
aufmerksam gemacht, dass in Frankreich manches nicht so ordentlich sei
wie bei uns in der Schweiz. Mein Lehrmeister wies sogar daraufhin, dass
die Züge aus Frankreich, wenn sie in Basel eingetroffen seien,
abgespritzt, also gewaschen würden, bevor sie ins Landesinnere
weiterreisten. Ich solle nur darauf achten, werde es erleben.
Solange wir in unseren Grenzen lebten und nicht viel reisen
konnten, nicht viel über unsere Nachbarn wussten, wurde die
schweizerische Ordnung als eine unserer grossen Stärken und eine Art
Auszeichnung gepriesen. Wir waren damals entsprechend kontrolliert und
wurden rasch zurechtgewiesen, wenn festgeschriebene Ordnungen nicht
eingehalten wurden. Es gab überall „Tüpflischiisser“ (Pedanten),
die einen zurechtwiesen. Aber sobald die 68er-Bewegung diese
Überheblichkeit als Scheinheiligkeit entlarvte und mehr Lebensfreude
aufbrechen konnte, entwickelte sich auch hier in der Schweiz mehr
Légèreté (Leichtigkeit, Ungezwungenheit). Und die Einsicht wuchs, dass
wir nicht besser sind als andere.
Interessant ist aber, dass die Schweiz, astrologisch gesehen, vom
Tierkreiszeichen „Jungfrau“ beeinflusst ist*. Die Verfassung vom
12.09.1848, 11.12 h, Bern, als Grundlage für die heutige
Bundesverfassung ist ihr Geburtstag. Unter diesem Einfluss stehen alle
Einwohner der Schweiz.
Da sind die Qualitäten wie Ordnung, Reinlichkeit, Detailtreue,
Präzision, Kontrolle, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Vorsorge, Sicherheit,
Versicherungen und auch Gesundheitsbewusstsein wichtige Bereiche, mit
denen hier erfolgreich gearbeitet wird.
Kein Wunder, dass in den Primar- und Sekundarschulen von einst im
Zeugnis auch „Ordnung und Reinlichkeit“ bewertet wurden. In meiner
Herkunftsfamilie wurde diese Rubrik ebenso gewichtet wie die Noten für
die einzelnen Fächer. Wie die Zeugnisse von heute aussehen, weiss ich
nicht.
Und die Wandlungen, die wir in den letzten 23 Jahren durchgemacht
haben? Wir können sie rückblickend gar nicht mehr exakt beschreiben. Sie
vollzogen sich stetig, manchmal leise, öfters auch mit Paukenschlag.
Und sie kümmerten sich nicht darum, ob sie uns passten oder nicht. Der
Mann aus Bolivien aber, er erlebte bei seiner Rückkehr die Veränderungen
unmittelbar.
*Quelle: Cortex Astrologischer Computer Service, Adliswil.
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