Schon im März dieses Jahres richtete ich die Blumenkisten auf dem
Balkon neu ein. Obwohl ich zuvor gelesen hatte, dass die Erde in solchen
Behältern jedes Jahr ausgetauscht werden müssse, brachte ich es nicht
übers Herz. Ich hatte den Inhalt auf den Boden gestürzt und sah die
Verflechtungen der vielen Wurzeln. Die Erde sah aus, als ob sie zu einem
grossen Keks gebacken worden wäre. In diesem überwinterten zähe Ableger
verblühter Blumen und Gräser. Eindrücklich, wie sie sich in
offensichtlich guter Zusammenarbeit arrangiert hatten.
Ich trennte etwa die Hälfte des kompakten Erdreiches weg, lockerte
den Rest und füllte mit der speziellen Erde für Balkonkisten auf.
Vergissmeinnicht, Akelei und Nachtkerzen, die 2 Frühlinge beanspruchen,
um ihre Blüten zu entfalten, hatte ich sorgfältig herausgelöst und
setzte sie in neuer Erde wieder ein. Den dicken Farnstamm griff ich
nicht an, liess ihm seinen angestammten Platz. Er dankte es mir und
schickte bald danach seine kleinen Kinder ebenfalls in die Welt.
Wenn ich jetzt auf dem Balkon sitze, sehe ich sowohl auf die Erde
als auch auf jedes Pflänzchen, das sie hervorbringt. Sofort. Kaum hat es
den Durchbruch ans Licht geschafft, kann ich es sehen. Diesen Blick
habe ich nicht, wenn ich von oben herab auf meine „Wiese“ blicke. Es
werden hier alle Gräser geduldet. Sie müssen keine Blüten hervorbringen.
Wir freuen uns schon, dass sie die strenge Gerade der Balkonarchitektur
auflockern.
Jetzt gerade beschäftigen sich mehrere Akelei-Stämme mit der
Samenproduktion. Auch im nächsten Jahr wollen ihre Nachkommen hier
aufwachsen. Diese Pflanze brachten wir vor etwa 20 Jahren aus dem Jura
nach Zürich. Wir hatten sie auf dem „Schni“ in Rocourt (Kanton Jura)
gefunden. Auf einem offenen Kehrichtberg, wie solche damals auf dem Land
noch zulässig waren. „Schni“ steht für das französische Wort „chenil“,
das aber „ch'ni“ ausgesprochen wird. Es bedeute „Hundezwinger“, erklärte
mir ein Romanist, und daraus sei der Sinn von einem dreckigen,
schmutzigen Raum oder eben von einem Abfallberg entstanden.
Es blühten gerade mehrere Nachkommen dieser Akelei, als uns Alex und Marianne
hier besuchten. Es berührte sie sehr, dass dies Nachkommen der Akelei
aus Rocourt seien, denn sie waren dabei gewesen, als wir sie ausgegraben
hatten. Die beiden haben uns damals den Jura und seine Schönheit
erschlossen. Nur weil wir diese Blume auf einem Abfallberg entdeckten,
nahmen wir sie mit. Damals war sie nach unserem Wissen geschützt. Heute
findet sie sich in manchen Gärten.
Und bald werden die Nachtkerzen, die sich in unseren Blumenkisten
ebenfalls wohlfühlen, wieder jeden Abend aufgehen. Dies ist für uns die
einzige Pflanze, der wir zuschauen können, wie sie sich öffnet. Immer
zur Zeit des Sonnenuntergangs. Dann verströmt sie noch einen feinen
Vanille ähnlichen Duft und dieser lockt dann sofort Nachtschwärmer
herbei.
Die Nachtkerzen zeigen uns viel Kraft, wenn sie ihre Blätter wie
ein Regenschirm öffnen. Normalerweise ist Wachstum ein sehr langsamer
und für unsere Augen nicht sichtbarer Prozess. Die Nachtkerzen gehören
zu den Ausnahmen. Sie dürfen uns diesen in beschleunigter Form
aufzeigen. Und ihre Blumen, die aufspringen, sind für mich Zeichen von
etwas Reifgewordenem. Etwas das Form bekommen hat und lebensfähig
geworden ist. Vergleichbar auch mit der Geburt eines Kindes.
Wenn die Sonne am Untergehen ist, trägt sie die Erfahrungen des
Tages in sich und somit in die Vergangenheit. Das Licht strahlt nochmals
alle und alles an. Es ist eine Art Verklärung, die da stattfindet. Nie
leuchten die Farben der Blumen so intensiv wie in diesen letzten
lichtvollen Augenblicken. Alle Stunden des Tages sind jetzt gelebt. Es
beginnt der Rückzug und das Zurechtkommen in der Nacht, im Übergang zu
einem neuen Tag. Im übertragenen Sinne ist es der Augenblick des Alters,
wo wir uns der Lebenserfahrungen bewusst werden.
In Norwegen habe ich ein Bild von Edvard Munch gesehen, das
diese Erfahrung festhält. Munch hat sie zeitlich etwas später angesetzt.
Von seinem Himmel leuchten schon die Sterne. Er nennt das Bild auch
„Stjernenatt“ (Sternennacht).
2 Personen überblicken aus einer Anhöhe diesen Abschied. Das
Sonnenuntergangsrot leuchtet noch. Es verliert sich in lindem Grün,
bevor es von der blauen Stunde aufgesogen wird. In den Häusern der Stadt
ist das Licht angezündet, und dieses trägt zur Stimmung des Augenblicks
bei. Aber: Wer sich dort drinnen aufhält, wird die Sterne nicht sehen.
Munchs Blick ist ergreifend. Licht, Farben und Dunkel setzte er so
zusammen, dass wir in diese Abenddämmerung hineingezogen werden. So sah
ich vielmals den Abend erlöschen, als wir noch im Bernoulli-Haus lebten
und die Sommerarbende im Garten verbrachten.
Ich freue mich schon auf die Nachtkerzen, die erfahrungsgemäss
ungefähr auf den längsten Tag hin erblühen. Ihnen dann wieder
zuzuschauen, wird gut tun. Es sind jeweils Augenblicke, die uns abheben,
uns mitnehmen in den zeitlosen Raum unserer geheimnisvollen Welt.
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