„Wie sollen Eure Tage aussehen?“, fragte Felicitas nach unserer Ankunft. Mena
notierte unsere Vorstellungen und die Wünsche der Kinder rechtsseitig
auf einem grossen Papier. Der übrige Platz wurde in 9 Felder für 9
Tagebucheintragungen eingeteilt. Über Wünsche und Erfüllung sollten wir
jederzeit Klarheit haben.
Die Kinder wünschten ein Picknick in einem Park, einen gemeinsamen
Kinobesuch und ein Abendessen im Restaurant. Auch unsere Vorgaben wurden
notiert. Wichtig für mich: Dass ich Felicitas endlich einmal „mein“
Quartier zeigen könne. Den Arbeitsort an der Rue de Vaugirard und den
Wohnort an der Rue Saint Placide. Von den Kindern wünschte ich mir
speziell, dass sie uns das zeigen können, was ihnen in ihrer Stadt
gefällt.
Einmal haben wir die 9-jährige Mena als Stadtführerin engagiert.
Sie begleitete uns zu Fuss von ihrem Zuhause im Umfeld der Metrostation Abbesses über Place Blanche zur Kirche Trinité und
dem vorgelagerten Spielplatz, wo sie sich als kleines Kind gern
vergnügte. Darauf wies sie hin. Sie war besorgt, dass wir die Strassen
korrekt überquerten und schaltete an jedem Fussgängerübergang die Glocke
für Blinde ein, die dann läutete, wenn die Ampel auf Grün schaltete.
Wir haben immer gute Erfahrungen gemacht, auch mit den eigenen Kindern,
wenn wir ihnen Verantwortung übergaben, im Hintergrund aber alles
überwachten.
Als wir dann bei den grossen Boulevards eingetroffen waren,
übernahm der Grossvater die Führung. Und wir landeten im berühmten
Warenhaus Galeries Lafayette. Drinnen aber ging uns Mena voran.
Wir durchwanderten jedes Geschoss, fuhren mit der Rolltreppe in die
nächste Etage, betrachteten die Angebote aber nur so nebenbei. Uns drei
interessierte der Baustil mit seinen kreisrunden Galerien, von denen wir
in jedem Geschoss übers Geländer in die Tiefe schauen konnten. Mena
bewunderte die Relikte an den alten Liften aus der Jugendstilzeit, und
vor allem interessierte sie sich für die mit farbigen Gläsern
ausstaffierte Kuppel. Wir kamen ihr ganz nahe und sahen ihre
Konstruktion, die Verschraubungen und sahen auch, dass einige Gläser
leicht verletzt sind. Die Rolltreppe führte dann aus einem Anbau nebenan
noch höher, und von dort aus konnten wir sogar auf sie herunterschauen.
Die höchstmögliche Aussicht war nun erreicht, und wir waren
gleichzeitig in der Spielzeugabteilung gelandet.
Erschien uns Mena bisher älter als sie ist, wurde sie hier oben
wieder ganz Kind. Sie verliebte sich in Kuscheltiere, betastete
haptische Materialien, bestieg Schaukelpferde, setzte sich an
Kinderklaviere und dirigierte eine Gokart-Bahn. Derweil entdeckten wir
Grosseltern das enorm vielfältige Spielzeugangebot und besonders die
jetzt gängigen Figuren von Barbie. Während sich Mena in diesem Kinderland irgendwie heimisch fühlte, realisierten Primo und ich, wie weit weg wir von ihm sind.
Nach dem Mittagessen und auf dem weiteren Weg – immer zu Fuss –
trafen wir auf ein Strassen-Orchester und lauschten dort eine Zeit lang
Vivaldis „Jahreszeiten“. Spannend auch für ein 9-jähriges Kind. Endlich
landeten wir vor der Kirche Notre Dame. Dort wollten wir den Turm besteigen und Mena die steinerne Figur zeigen, in der Globi sich selbst erkannte. Globi
ist ein Wesen zwischen Mensch und Papagei und die erfolgreichste
Kinderbuchfigur der Schweiz. Wenn die Enkelkinder zu uns kommen, gehen
sie jedesmal sofort zum Schrank, wo seine Bücher versorgt sind.
In der Geschichte „Globi erlebt Paris“ besuchte er ebenfalls den Turm von Notre Dame
und erschrak, als er in einer Ecke der Balkonbrüstung eine dämonische
Figur wahrnahm, die seinen Gesichtszügen ähnelte. Der Globi-Texter sah
in dieser und anderen Figuren Wasserspeier. Aus meiner Sicht sind es vom
Steinmetz erschaffene Figuren. Schimären, die das Böse erschrecken und
das Heiligtum beschützen müssen. Als wir aber die unzähligen Menschen in
der Warteschlange sahen, änderten wir das Programm. Von weit her sahen
wir Globis Verwandte dann doch noch. Zusätzlich kaufte ich für Mena eine Postkarte mit einer Nahaufnahme von ihm.
Eindrücklich bleiben die vielen Menschen in Erinnerung, die Notre
Dame besuchen wollten. Quer über den ganzen Vorplatz dieser
weltberühmten Kathedrale stand man in der Schlange an. Niemand drängte
vor. Dieser Ort strahlt eben aus. Die Menschen, die hieher kommen,
fühlen rasch, dass die Atmosphäre einmalig ist. Alt und Jung wollen Notre Dame
sehen und erleben. Das lange Warten wird akzeptiert. Bald einmal fühlt
es sich sogar wohltuend an. Wartend vermischen sich Temperamente und
persönliche Energien zu einem Fluidum, das heiter und friedlich stimmt.
Das ist meine persönliche Erfahrung. Und davon sprechen auch Fotos, die
ich hier schon vor Jahren aufgenommen habe.
Wir begleiteten Mena dann in den Square Johannes XXIII. an
der rechten Seite der Kathedrale. Dort befindet sich ihre
Lieblingsschaukel. Sie verfügt über ein höheres Gestell, eine längere
Kette als üblich. Zum Schwung kann weiter ausgeholt werden. Mena kann
nicht genug schaukeln. Hin und her, hinauf, hinunter, vom Diesseits ins
Jenseits, scheint mir. Als sie ihren Platz einem Amerikaner abtrat,
schaute sie bewundernd zu, wie er, ohne zu stoppen, aus dem Schwung
absprang. Da wollte sie es ihm gleich tun und stürzte. Die Schürfungen
waren nicht bedrohlich, aber der Schreck hing noch eine Weile an ihr.
Sie hinkte, meinte, das Knie nicht mehr beugen zu dürfen.
Nicht lange, denn wir trafen auf einen Gaukler, der mit seinem Velo
Kunststücke vollführte. Eine Attraktion löste die andere ab. Den
Schlusspunkt bildete eine Glace, die auf der Promenade am Seineufer
angeboten wurde. „Grosy, du wirst dich wundern“, sagte sie, als sie eine Kaffee-Glace wählte.
Diese überbrückte dann die Müdigkeit und den kleinen Schmerz. Gut gelaunt kamen wir nach Hause zurück.
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