Diesmal verlief vieles anders. Primos Beobachtung von
früheren Reisen nach Paris wiederholte sich nicht sofort. Es hiess da,
ich sei jedesmal ein anderer Mensch, wenn ich die Grenze zu Frankreich
passiert habe. Quirliger, erlebnishungriger, lustiger. Dem riesigen
Adler gleich, nach dem wir jeweils in Saint Louis ausschauen. Die
mächtigen Flügel zum Abflug ausgebreitet, bewacht er das Museum für
Gegenwartskunst im ehemaligen Weinlager von „Fernet Branca“. Und er stellt, auf der Weltkugel sitzend, das Logo dieser Firma dar. Eine imposante Erscheinung.
Abfliegen wollen und doch an einen Ort festgebunden sein, in
solchem Spannungsfeld fühlte ich mich diesmal beim Grenzübergang. Wir
hatten gerade bemerkt, dass Primo die Identitätskarte nicht auf sich
trug. Wohl dachten wir ans Schengen-Abkommen, das die Grenzen in Europa
öffnete, aber da kam doch die Grenzpolizei in unseren Bahnwagen. In
stoische Ruhe versunken, fragten wir uns, was auf uns zukomme. Es wurde
aber nur eine Person und deren Gepäck von 3 Grenzwächtern sorgfältig
überprüft. Wir blieben unbehelligt, aber auch weiterhin still.
Nach Strasbourg führte die Reise im TGV-Hochgeschwindigkeitszug
durch die Champagne. Diese Route ist neueren Datums und führt durch
riesige Felder auf sanften Hügeln. Sie waren grösstenteils abgeerntet
und zwischen den verbliebenen Getreidstorzen wuchs schon wieder zartes
Grün. Einen solchen Farbteppich beige-silber-grün würde ich gern für
meine Stube erwerben, wenn es ihn gäbe. Von solchen Bildern begleitet,
erlebten wir die Reise meditativ. Nach 5 Stunden waren wir schon in
Paris.
1958/59, als ich in Paris arbeitete, benötigte die Bahnreise ab
Zürich noch 10 Stunden. Ich erinnere mich an Halte in grösseren Städten,
wo den Reisenden auf rollenden Verkaufswagen vom Perron aus
Zwischenverpflegung und sogar mit Kapok gefüllte Kissen angeboten
wurden. Damals gehörten zum Reisen auch Zufallsbekanntschaften im selben
Abteil und Gespräche mit ihnen. Heute schläft man in der Bahn. Die
Landschaft wird kaum mehr bewusst wahrgenommen. Dies meine Erfahrung,
auch in der Schweiz. Ausgenommen sind gut informierte Touristen, die
wissen, wo die landschaftlichen Schönheiten zu erwarten sind.
Im Zug reiste auch eine japanische Reisegruppe. Die meisten
schliefen. Der Reiseleiter sass mir gegenüber. Als er seine Papiere
geordnet, alle Informationen verteilt hatte, zog er eine eng anliegende
Brille aus Stoff über die Augen und tauchte ab in einen ruhigen Schlaf.
Ich dachte auch Tage danach noch an diese Reisenden und frage mich jetzt
wieder, wie man solche Monstertouren in fernste Länder und zu
touristischen Höhenpunkten erträgt. Wie verkraften Herz und Kreislauf
die ständig wechselnden Höhenunterschiede und die wechselnden
Wettereinflüsse? Was kann überhaupt wahrgenommen werden?
Im Abteil uns gegenüber hatten sich eine Grossmutter, ihre Tochter
und 2 Enkelkinder aus Basel eingerichtet. Die beiden Frauen strömten
eine liebenswürdige Präsenz und auch Gelassenheit aus, die sich auf die
Kinder übertrug. Das vielleicht 10-jährige Mädchen strickte an einem
Schal, und der kleinere Bruder füllte Bilder in einem Malbuch aus. Es
wurden Rätsel gelöst, Proviant gegessen, Fingerspiele gemacht und auch
ein bisschen gedöst. Sobald aber die ersten Häuser der Pariser Banlieue
sichtbar wurden, erwachten alle, auch die Reisenden aus Japan und das
Mädchen von nebenan. Es fragte nach der Sprache in Paris: Ob sie
frankrichisch heisse (aus dem Wort Frankreich abgeleitet). Solche Fragen
gefallen mir.
Paris! Auch Primos und meine Lebensgeister erwachten. Das markante Häusermeer hiess uns willkommen. Ebenso unsere Tochter Felicitas und ihre Töchter. Mena und Nora
schauten am Perroneingang nach uns aus. Als sie uns erkannten, rannten
sie los, uns zu begrüssen und zu umarmen. Nora, 5-jährig, ist besonders
dem Grossvater zugetan. Darum rief sie, schon während sie uns
entgegenlief: „Dä Gropi isch für mich. Dä Gropi isch für mich“ (Der Grossvater sei für sie reserviert).
Nora sorgte auch sofort für einen Ersatz, als wir erzählten, dass
Gropi die Schweizer Identitätskarte zu Hause liegen gelassen habe.
Sofort stellte die 5-Jährige eine Ersatz-ID für ihn aus. Auf einem mit
der Karte vergleichbar grossen Papier zeichnete sie das Porträt ihres
Grossvaters. Die Fröhlichkeit in Person. Stimmt. Ich staune immer
wieder, wie Kinder im Vorschulalter mit wenigen Strichen Stimmungen
festhalten können. Hier das lustige Gesicht, das vom Wind aufgestellte
Haar (man nannte ihn zeitweise Tintin), die grosse Nase, die
ausgestreckten Arme und rund um ihn schwebende Kugeln, die als lustige
Einfälle zu deuten sind.
Dieses Papier kam in die Brusttasche jedes Hemds, das er in Paris
trug. Es erwies sich als wichtiger Datenträger. Auf der Rückseite
vermerkte uns Felicitas ihre Telefonnummer, ihren Haustürcode, die
Strasse und Hausnummer unserer Ferienwohnung und auch deren Haustürcode.
Nach 3 Tagen traf Primos ID im Original in Paris ein. Die in Zürich zurückgebliebene Tochter Letizia hatte dafür gesorgt. Dass wir von einander Haustürschlüssel besitzen, hat sich nicht zum ersten Mal als hilfreich erwiesen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen