Samstag, 22. Oktober 2016

Vilnius. Die Weitsicht auf dem Gediminas-Burghügel

Vom Rundblick über das Stadtzentrum habe ich noch nichts erzählt. Zum Gediminas-Turm führt ein sogenannter Schrägaufzug (Standseilbahn.) Streckenlänge 71 Meter. Die Fahrt dauert 35 Sekunden. Diese Zahlen bewegen sich in kleinem Rahmen. Um so grösser ist das Erstaunen, wenn man auf dem Wiesenhügel angekommen ist und die Stadt von oben überblicken kann. Der dickwandige Turm und Reste von der zugehörigen oberen Burg sind fein renovierte Zeugen aus alter Zeit.
Der Zeitpunkt für unseren Ausflug dorthin erwies sich als günstig. Es baute sich langsam ein gewaltiges Gewitter auf und lieferte fantastische Bilder. Die Sonne, kurz vor ihrem Untergang, war daran beteiligt, leuchtete die Wolkenfrachten aus oder durchdrang sie. Und der Wind gab den Wolkenschiffen die nötigen Schübe.


Das war unser letzter Spaziergang und Ausflug in Vilnius. Wenn ich an diese Stadt zurückdenke, «sehe» ich helles Licht, den weiten Platz vor dem Glockenturm und der Kathedrale und einen Himmel, der als ein Gewölbe erscheint.

Primo sagte dieser Tage, eine solche Rundumsicht, wie wir sie erlebt hätten, gehöre nur zu Ferien. Unsere Arbeiten und Pflichten verlangen Detailtreue und einen Blick für die Nähe.

Und ich dachte zu unseren Erlebnissen, es müssen nicht immer Zwei- oder Dreitausender sein, um Weitsicht zu erlangen. 35 Sekunden haben für uns gereicht, um wundervolle Himmelsbilder zu erkennen. Ebenso entdeckten wir das moderne Vilnius mit seinen Glasbauten, als wir in die Tiefe schauten.

Auf dem Rückweg regnete es leicht. Es störte uns nicht. Den Schirm hatten wir mitgenommen.

Freitag, 7. Oktober 2016

Vilnius kennen gelernt. Erlebnisse meiner Reise ins Baltikum

Als wir bei der Ankunft das Flughafengebäude verlassen hatten, begrüsste uns die untergehende Sonne. Wir blieben stehen, schauten ihr eine Weile zu, wie sie den Tag beendete, aber noch geraume Zeit rotgolden ausstrahlte. Nach der Taxifahrt ins Hotel und nach dem Zimmerbezug sank dann die Nacht über uns herein. Die Innenstadt empfing uns aber mit warmen Lichtern und nahm uns sofort für sich ein.

Die warmherzige Atmosphäre übertrug sich auf uns. Und Letizia, die diesen Ort bereits kannte, führte uns in ein Gasthaus, das für seine traditionellen Speisen bekannt sei. Zum Schriftzug dieses Hauses gehört ein stilisiertes grünes Blatt. Es hat mich sofort angesprochen und mir auf seine Art versprochen, dass hier natürliche, also lebendige Nahrung aufgetischt werde.
Die litauische Sprache ist ein Geheimnis für mich. Gäste aus dem Ausland werden hier hauptsächlich englisch sprechen. Letizia konnte für Primo und mich Wünsche und Worte übersetzen. Hilfreich war in diesem Restaurant, dass die Speisekarte mit Fotos von den Gerichten ergänzt war. Dieses erste Abendessen wurde dann auch zu einem Festessen, weil wir es mit Hilfe der Abbildungen nach unseren Gelüsten bestimmen konnten.

Anderntags, als wir uns im Umfeld des Rathauses aufhielten, entdeckte Primo im Schaufenster der Buchhandlung den Titel Litauische Zaubermärchen, das einzige Buch in der Auslage, das uns in der eigenen Sprache ansprechen konnte. Es stand dominant platziert, ganz vorne am Fenster. Wartete es auf uns? Wir bildeten es uns ein. Wir kauften es sofort.

Letizia entdeckte im Laden zusätzlich ein wertvolles litauisches Kochbuch, das in englischer Sprache vorlag. Auch dieses wurde nach Zürich mitgenommen. Beide Bücher sind für uns Türöffner ins Land Litauen.

Schade, dass die kleinen Gespräche ausbleiben mussten. Wenige Worte und Gesten halfen uns, ein Geschäft abzuwickeln. Und eine zusätzliche Geste half jeweils, um auszudrücken, dass wir die Auslagen und den kulturellen Reichtum bewunderten. Letizia flüsterte uns immer zum rechten Zeitpunkt die litauischen Worte für Dank und Gruss zu, wenn wir diese wieder vergessen hatten. Unser Aufenthalt in Vilnius vermittelte unter diesen Umständen vor allem Bilder und daraus resultierende Gefühle. Und dort wo gesprochen werden musste, sorgte ihr Englisch für gegenseitiges Verständnis.

An einem Abend schlenderten wir durch die Altstadt. Da wurden wir aufmerksam auf einen Mann, der vor einer Haustür stehend eine missionarische Rede hielt. Halb singend, halb sprechend. Zürichdeutsch wäre das Wort luurggä hier passend. Ich blieb auf der gegenüberliegenden Strassenseite stehen und hörte zu, weil ich den Sprachklang erleben wollte. Plötzlich hob er seinen auf dem Trottoir liegenden Rucksack auf, hängte ihn über die Schulter, winkte und kam auf uns zu. Ich verstand, dass er wissen wollte, woher wir kämen. Aus der Schweiz. Switzerland. Aus Zürich. Ah! Das verstand er, kratzte sich hinter den Ohren und antwortete, wie man in der Schule antworten musste. Langsam zählte er Städte auf. Geneva (Genf), Bern, Luzern, St. Gallen, Basel. Alles markante Orte, die zur Schweiz gehören. Und er freute sich, dass wir ihn verstanden. Dann begann er zu singen. Er packte mich am Arm, wollte mit mir auf der Strasse tanzen. Primo machte mich später darauf aufmerksam. Ich aber wollte weitergehen und wünschte, dass er mich loslasse. Er war betrunken, aber nicht bösartig. Da tauchte hinter uns ein stramm daherkommender, fein gekleideter Mann auf, packte ihn am Arm, schupfte ihn weg von mir und ging zwischen uns beiden hindurch, ohne einen Augenblick stille zu stehen. Ein Moment mit einem Messerschnitt vergleichbar. Primo und Letizia standen in der Nähe, betrachteten das Schauspiel und hätten gewiss eingegriffen, wenn es nötig gewesen wäre. Es beruhigte mich dann, dass der weggeschubste Mann nicht traurig oder böse wurde.

Am nachfolgenden Tag besuchten wir verschiedene Kirchen. Aus Reiseführern wusste ich, dass sie in dieser Stadt sehr zahlreich sind. Die genannten Zahlen sprechen von 40 oder sogar 90 Kirchen. Ich konnte sie nicht zählen. Ihre Türme und Kuppeln grüssten aus vielen Winkeln heraus. Die filigran gestalteten Kreuze und auch Wetterfahnen belebten in feinfühligster Art das Himmelsbild.

Alle Kirchen waren geöffnet. Wir durften sie betreten und ihre architektonische Frömmigkeit erfahren. Wir besuchten auch die Russisch-orthodoxe Romanow-Kirche. Prächtig ihre Gestalt, der hohe Raum und vor allem die satt grünen Wände, die eigenartig ausstrahlen. Wir blieben stehen, schauten uns vielsagend an. Waren wir in Russland angekommen?

Besonders angetan hatte uns die Marienkapelle auf dem Tor der Morgenröte. Die einstige Stadtmauer war früher mit 9 Toren ausgerüstet. Jenes der Morgenröte hat als einziges überlebt. Der Name Morgenröte verweist auf den Sonnenaufgang und für die Richtung nach Osten. Dieses Marienheiligtum auf dem Tor der Morgenröte sei eines der heiligsten Orte in Litauen, las ich im Prospekt Polnisches Kulturerbe in Vilnius. Pilgerwege aus aller Welt führen auch heute noch hierher. Wir konnten die Kapelle mit der schwarzen Madonna an einem frühen Nachmittag zu einer ruhigen Stunde besuchen. Dieses Heiligtum, das viele Kriege und Okkupationen überstanden hat, befindet sich exakt über dem Tor der Morgenröte. Es ist von weither sichtbar und zieht einen an.

Der schmale Raum ist erfüllt vom Abglanz der dargestellten Madonna mit ihrem milden, barmherzigen Blick. Aber auch vom Gold ihres Strahlenkranzes und Kleides. Der Künstler, der das Gesicht auf Holz gemalt hat, malte Augen, die irritieren können. Gehen wir dieser Marienfigur entgegen, schaut sie uns an. Gehen wir an ihr vorüber, schaut sie uns nach.
Bilder gibt es auf der offiziellen Tourismus-Website von Vilnius: www.vilnius-tourism.lt

Markthalle
Ganz andere Sinne sprachen dann die Auslagen in der grossen Markthalle an. Vorab das Riesenangebot an Fleisch. Sämtliche Innereien und Muskelfleisch von Tieren. Schmunzelnd wurde uns noch ein Ochsenauge angeboten. Wir sahen wieder einmal offene Fleischbänke. Da gab es kein in Plastik verpacktes Fleisch. Es waren hauptsächlich Frauen, die es nach den Wünschen der Kundschaft zuschnitten. Hier entdeckten wir auch gepresstes Speckfett, Fettschwarten, Hühnerbeine und Würste.

Im weiteren Umfeld wurden Schuhe und Kleider feilgeboten. Und Strickwolle. Riesig das Angebot. Wie zu Zeiten, als die meisten Frauen noch strickten. Und dann fand ich auch noch eine grosse Auswahl an quadratischen Foulards (Seiden- oder Baumwolltüchern), die in dieser Art in Zürich kaum mehr zu finden sind. Die Marktfahrerin wird mir noch ewig in Erinnerung bleiben. Theatralisch präsentierte sie die Tücher und begriff sofort, was ich suchte.
Glockenturm und Kathedrale
Gediminas: Gründer der Stadt Vilnius
Wir drei fühlten uns wohl in Vilnius, waren immer zu Fuss unterwegs, die Augen offen und sich am weiten Himmel freuend. Auf dem grossen Platz beim Glockenturm und der Kathedrale kam immer ein bestätigendes Gefühl auf: Ja, wir befinden uns in Vilnius.

Auf diesem Platz machte uns Letizia auf zwei Fussabdrücke aufmerksam. Sie erinnern an die grösste Menschenkette der Geschichte für die Freiheit. (23. August 1989, von Vilnius über Riga bis Tallin.) Diese läutete das Ende des Ostblocks im Baltikum ein. Den Anfang vom Ende der Sowjetunion.

Das schönste Geschenk, das ich heimgebracht habe, ist das Litauische Märchenbuch. Die Geschichten und dazugehörige Illustrationen sind Fenster zur Seele dieses Landes. Ich bilde hier den Buchdeckel und einen Ausschnitt aus dem rückseitigen Einband ab. Da offenbaren sich die Altvorderen, die schon lange unter der Erde sind. Der Weg zu ihnen und ihrer Lebenserfahrung ist aber offen. Wer das Buch dreht, sieht das auferstandene, uralte Paar. Dieses schaut auf den Rand der Erde, auf seine Wesen, Tiere und eine menschliche Person. Illustration und Texte sind eine Einheit. Die Zeichnungen grandios. Sie verbinden Wort und Bild zur ganzen Geschichte.

Und zum Schlusspunkt eine überraschende Erkenntnis:
Wir hatten in Vilnius Parkbäume mit roten Beeren entdeckt, die wir nicht benennen konnten. Zurück in Zürich suchten wir in Baumbüchern nach ihrem Namen. Wie wir feststellten, handelt es sich um die Schwedische Mehlbeere. Von einem Friedhofgärtner erfuhren wir noch zusätzlich, dass die Beeren dieser Baumart im Altertum gemahlen und als Mehl verarbeitet wurde. Ganz neu für uns. Und dann einen Tag später, entdeckte ich an unserer Strasse, auf der Höhe unseres Wohnortes, 4 solcher Bäume. Auch sie jetzt voller roter Beeren. Durfte ich deshalb nach Vilnius reisen? Eine passende Antwort könnte ein Zitat von Albert Camus abgeben: Das Reisen führt uns zu uns zurück.

In Vilnius gelandet

Im Frühjahr 2016 lernte unsere Tochter auf einer Presse-Reise zur Lancierung der neuen Flugdestination Zürich–Vilnius die Hauptstadt von Litauen – Vilnius – kennen. Begeistert von den ersten Eindrücken, wollte sie nochmals dorthin reisen. Sie lud uns ein mitzukommen. Ich hätte ja vor Jahrzehnten schon davon geträumt, einmal im Baltikum zu landen.

Panorama Katedros aikštė Vilniuje, Kathedrale Vilnius

Ihre Berichte vom Frühjahr 2016 und Fotos geben meinen Geschichten nun den nötigen Hintergrund:
Vilnius. Die lebensfrohe Hauptstadt Litauens
10 Dinge die man in Vilnius tun sollte
Vilnius klassisch oder doch lieber hip?
Trakai – Die Wasserburg und die Ruhe mitten in der Natur

Angaben zum Buch Litauische Zaubermärchen:
Herausgegeben von Bronislav KERBELYTÉ, Illustriert von Irena ŽVILIUVIENĖ
ISBN 978-9955-736-60-8 © R.Pakni leidkykla

Angaben zum Kochbuch TASTE LITHUANIA von Beata Nicholson:
Herausgegeben von Beatos Virtuve; 1st edition (2015)
ISBN-10: 6098157022 ISBN-13: 978-6098157024