Freitag, 31. August 2007

Lohn GR: Der Klanggarten in Mathons Nachbargemeinde

In Lohn, wo die Bise öfters zu Gast ist, darf sie seit 2 Jahren auch Künstlerin sein. Ich weiss nicht, ob sie allein für das Windharfenspiel zuständig ist, oder ob auch andere Winde ihren Anteil daran haben. Das alte Instrument, das nach dem griechischen Gott und König der Winde auch Äols-Harfe genannt wird, ist in Übereinstimmung mit dem Windzug hoch über dem Tal aufgestellt.

2 Halbschalen stehen in handbreiter Distanz mit dem Rücken zueinander. In diesem Zwischenraum sind etwa 6 ungefähr 2 Meter lange, vertikale Saiten aufgespannt, wie wir solche von Gitarren oder Geigen kennen. Der Wind bringt diese Saiten zum Klingen, wenn er sich durch die Öffnung zwängt. Dort wird er verdichtet und entlockt der Harfe ein Sirren und Summen, eine natürliche Musikalität. Auf einer Tafel wird darauf hingewiesen, dass ihre Kompositionen unendlich variabel seien und ich kann zusätzlich sagen, dass sie von ergreifender Schönheit sind.
 
Nicht weit von der Harfe entfernt, steht ein Glasflaschenturm, mit dem der Wind ebenfalls spielen kann. Wenn er in die Flaschen eindringt, bringt er Töne hervor, ähnlich wie sie der Panflöte entstammen. Und Primo wurde sogleich an Signaltafeln von Baustellen hier in Zürich erinnert. Dort tönt es genau so, wenn diese beschädigt sind und der Wind durch ein Loch pfeifen kann.
 
Beide Windklang-Instrumente sind Teil des Klanggartens „tùn resùn“, der auch in den angrenzenden Wald hineinführt. Dort hängt zwischen 2 Bäumen eine 2 Meter lange und etwa 60 cm breite Blechplatte, mit der Theater-Donner erzeugt werden kann. Hier spielten Kinder nach Herzenslust. Es fehlte nur noch der Blitz, um ein echtes Gewitter vorzutäuschen.
 
Ebenfalls im Wald fanden wir die Installation, die den Specht hörbar macht. Wir sahen Buben und Mädchen, die begeistert am Seilzug zogen und den klopfenden Specht imitierten. Hier war auf etwa 20 Metern Höhe ein Holzkasten angebracht. An diesen klopfte ein Holzklöppel, wenn die Kinder am Seil zogen.
 
Andernorts durften Glocken bewegt werden, die ein Herdengeläut nachahmten. An einer in der Erde versenkten Holzstange waren bewegliche Querstangen angebracht und an diesen Seitenarmen verschiedene Glocken aufgehängt. Die Kinder konnten an einem Knebel ziehen und die Glocken zum Läuten bringen. Da tönte es wie auf einer Alpweide.
 
Dort, wo Glocken dreistufig übereinander in Tonleiter-Anordnung zwischen 2 Bäumen aufgehängt waren, beobachteten wir eine Mutter, die ein Kinderlied anklingen liess.
 
Und ganz besonders berührten uns die hängenden Granit-Scheiben. Wenn sie leise angestossen wurden und sich gegenseitig anschlugen, tönte es, wie wenn Eis aufbricht.
 
Der Weg zu diesem Klanggarten mit seiner Urmusik ist gut markiert, Waldmännchen zeigen die Richtung an. Er beginnt hinter dem Gasthaus Orta, bei der Postautostation Lohn.
 
Etwas sehr Wichtiges wurde hier noch nicht angesprochen: Hier oben waren wir den Sternen nahe. In klaren Nächten funkelte und glitzerte es am Firmament. Der Himmel war offen, schüttete seine Juwelen über uns aus, ohne dass diese auf die Erde fallen mussten. Davon können wir in der Stadt nur träumen. Luftverschmutzung und künstliches Licht verwischen die Schönheit einer klaren Nacht.
 
Als Felicitas und ich einmal um Mitternacht draussen in den Himmel schauten, bemerkte sie gleich, dass das Firmament rund erscheint und einen Raum andeutet. Da war mir, als hätten wir jene uns schützende Hülle gesehen, in der die gesamte Menschheit aufgehoben ist.

Dienstag, 28. August 2007

Mathon GR: Heudüfte, Kräuterseife, Pilz und Schnecken

Die Bauern von Mathon GR nutzten die sonnigen Tage, um das Heu einzubringen. An allen Orten duftete es nach Kräutern und trockenem Gras, und wir sahen Männer und Frauen, wie sie es wendeten und sammelten. Im Gespräch mit dem Landwirt, Herr Willi Dolf*, äusserte Primo den Wunsch, eine Portion Heu mit nach Hause zu nehmen. Da brachte er uns von einer seiner höchst gelegenen Wiesen einen prall gefüllten Stoffsack voll. Bevor ich es demnächst in Kissenüberzüge einnähe, habe ich es ausgelegt, in den Händen gerieben und das Aroma eingesogen. So mache es der Bauer, erfuhren wir. Und ich stellte fest, dass dieses Heu dem Duft der in Mathon verwendeten Bergkräuterseife aus dem Bergell (auch ein Ort im Kanton Graubünden) exakt entspricht. Bekanntlich arbeitet die Kosmetik-Firma SOGLIO mit Naturprodukten. Trotzdem war ich elektrisiert, als mir meine Sinne diese Übereinstimmung meldeten.
Auf einer Wanderung ohne die Kinder und abseits von ausgetretenen Pfaden begegneten wir unverhofft einer geheimnisvollen Persönlichkeit, dem Fliegenpilz. Offensichtlich stand er gerade auf dem Höhepunkt seiner Entfaltung. Sein Stamm schimmerte weiss, und die ebenfalls weiss gezackte Manschette wies ihn als vornehmes Wesen aus. Er nahm unsere Bewunderung huldvoll auf. Sein roter Hut war wie ein Regenschirm aufgespannt und beachtlich gross. Durchmesser: ungefähr 15 cm. Die weissen Flecken gefielen mir besonders, denn es sind keine Tupfer, wie es in Illustrationen immer wieder dargestellt wird, sondern Warzen, kleinen Papierfetzchen gleich, unterschiedlich gross, unterschiedlich weiss, wie hingeworfen, ganz nach dem Schönheitssinn der Natur. Dieser Pilz wuchs unter einer Tanne auf. Der braune, mit vielen Tannnadeln übersäte Grund brachte seine Farben zum Leuchten. Der rote Hut war übrigens mit einem orangefarbenen Rand geschmückt, dessen Oberfläche leicht gewellt an einen Kuchenrand erinnerte.
 
Als ihn Primo ein paar Tage später nochmals besuchen und fotografieren wollte, war er schon am Absterben. Schleimig und seiner fürstlichen Ausstrahlung beraubt, kurz vor der Auflösung.
Mena und der Grossvater sammelten Tannzapfen, vom Wind abgebrochene Äste, abgefallene Baumrinde und Bruchsteine, die sich ausgezeichnet für einen Puppenhausbau nach altem Vorbild eigneten. Aus dem hölzernen Material entstanden ein Stall mit Futterkrippe für die Kühe und ein Gehege für Ziegen. Mit den Steinen wurde ein Haus gebaut, ähnlich offen wie jenes von Tumasch Dolfs Elternhaus und vor ihm ein Gehege für verschiedene Tiere. Im VOLG-Laden werden den Kindern an der Kasse kleine, farbige Holzfiguren zum Spielen abgegeben. Für diese wünschte sich Mena einen Tierpark. Heidi und Peter, die Figuren aus Johanna Spyris Heidi-Geschichte, kamen auch aus dem VOLG-Laden zu uns. Und die Kühe gestaltete der Grossvater aus den gesammelten Tannzapfen. Diese Anlage entstand auf dem gedeckten Sitzplatz vor dem Ferienhaus. Über Nacht setzte dann Regen ein. Und am Morgen fanden wir zur grossen Überraschung 5 Gehäuse-Schnecken in den Stallungen. Es gefiel ihnen vor allem in der aus Baumrinde hergestellten Futterkrippe und wir hiessen sie gern willkommen. Sie gingen, je nach Witterung, hier ein und aus. Manchmal waren sie verschwunden, und Mena entdeckte sie in den Mauernischen. Dann wieder schlichen sie vor der Küchentür umher. Sie legte ihnen Fetzen kleiner Salatblätter aus und beobachtete sehr genau, wie diese die Fühler ausstreckten, die Nahrung fanden, daran frassen und wie das Grün langsam verschwand.
 
Wir erlebten immer wieder, ohne es zu erwarten, dass die Natur unsere Spiele, Spaziergänge und Beobachtungen um das erweiterte, was wir aus uns selbst nicht vermocht hätten.
*
*Frau Martina und Herr Willi Dolf vermieteten uns die Ferienwohnung in Mathon

Sonntag, 26. August 2007

Steinbock-Fest im „Center da Capricorns“, Wergenstein GR

In diesem 3. Bericht über Ferien in Mathon GR steht das „Center da Capricorns“ in der Nachbargemeinde Wergenstein im Mittelpunkt. Es ist dem Steinbock gewidmet und versteht sich als Innovations- und Informationszentrum für Natur, Kultur, Sprache und Forschung. Im Internet ist es unter www.capricorns.ch ausführlich dokumentiert.
 
Wergenstein liegt auf ähnlicher Höhe wie Mathon und ist von dort zu Fuss in zirka 40 Minuten oder mit dem Postauto erreichbar.
 
Am Wochenende 10. bis 12. August 2007 wurden hier verschiedene Anlässe durchgeführt. Neben den Capricorn-Gesprächen über „Das neue Bild der Schweiz – alpine Landschaftsentwicklung zwischen Brache und Metropole“ vom Freitag war am Samstag das Steinbock-Fest angesagt. In seinem Angebot war auch ein Animationsprogramm für Kinder. Da machten wir uns rechtzeitig auf den Weg. Auch der erwähnte Markt lockte uns.
 
7 Verkaufsstände präsentierten Spezialitäten aus dieser Region: Salsiz, Birnbrot, Honig, Käse, Postkarten, Kunsthandwerk, Holzspielzeug, Stein- und Textilprodukte, T-Shirts, Pasta und Kosmetikprodukte aus Soglio GR. Esther Grischott aus Pigna GR wird uns mit ihren Filzarbeiten in Erinnerung bleiben. Einerseits sitzen wir jetzt zu Hause auf Kissen, die sie gefilzt hat, andererseits hat sie uns mit ihren Vögeln aus Ästen und Filz begeistert. Sie nennt ihre Kreationen Grischart.
 
Verköstigen konnten wir uns mit Grillspezialitäten. Neben ausgesuchten Würsten und Fleischspezialitäten dieser Region entdeckte ich hier die Zigerschnitte, ein mit Kräutern aromatisierter Frischkäse, auf dem Grill geröstet. Ein Gedicht!
 
Musikalisch unterhielten uns 3 junge Frauen als Formation „al dente“ aus dem Domleschg. In sich versunken, spielten sie über ein paar Sunden hinweg unaufdringlich und liebenswürdig ihre Volksmusik. Sie schufen jene heitere und wohlige Stimmung, die ein Fest braucht, um zu gelingen. Zudem spielte auch die Sonne mit. Mena und ich sassen lange in ihrer Nähe und sogen die Klänge auf.
 
Auf einmal fuhr das Auto des „Zirkus Lollypop“ vor. Angekündigt war ein Animationsprogramm für Kinder mit  Einradfahren, Jonglieren, Akrobatik und anderen Spielen.
 
Es wurden Bodenmatten ausgerollt und Artisten-Requisiten ausgeladen. Alle am Fest anwesenden Kinder sprangen herbei und wurden sofort einbezogen. Mit sicherem Gespür, was dem einzelnen Kind entspreche, verteilte der Animator Bälle, Bänder, das Einrad, Hulahopp-Ringe usw. und seine Partnerin half jenen, die die rollenden Fässer besteigen wollten und begleitete sie. Buben fanden sich unter Anleitung auch zur Menschen-Pyramide zusammen. Alles vollzog sich ohne rivalisierendes Geschrei und von den Veranstaltern mit grosser Achtsamkeit. Höhepunkt war dann das Feuerschlucken.
 
Sogar die kleine, erst einjährige Nora durfte am Rand des Geschehens sitzen und mit den erhaltenen Jonglierbällen spielen.
 
2 Stunden waren schnell vorbei. Schon sammelten die beiden Artisten die Spielgeräte wieder ein und fuhren weiter. Bis dahin hatte sich unser Besuch in Wergenstein im Freien abgespielt. Anschliessend besuchten wir noch das Steinbock-Zentrum mit dem dazugehörigen Hotel Restaurant Piz Vizàn. Im Ausstellungsraum konnten wir Kristalle bewundern und manches über den Steinbock und andere Tiere erfahren. Und wir sahen die grossen, geflochtenen Tragkörbe in Tierform, wie sie für den Transport gebraucht werden. Mena versteckte sich darin und wünschte, dass man sie herumtrage. Dann entdeckte Letizia an Bändern befestigte Füsse vom Steinbock, von der Gemse und vom Hirsch. Schnell packte sie einen, zog den Ärmel ihrer Strickjacke über ihre Hand, und an deren Stelle schaute nun ein Steinbock-Fuss hervor. So stand sie vor uns hin und fragte verschmitzt: „Was stimmt hier nicht?“ Alle lachten, und manches Kind aus ihrem Umfeld wartete nur darauf, diesen Fuss auch im Ärmel verstecken und die Szene nachspielen zu können.
 
Für uns war dieser Ausflug ein Glücksfall, das Fest sympathisch und ganzheitlich. Die Ausstellung auch berührbar. Danke den Organisatoren und auch dem Postauto, dass es müde Kinder nach Mathon zurückgefahren hat.
 
Für den nächsten Tag war noch eine Steinbock-Exkursion auf 2340 ü. M. ausgeschrieben. Ein verlockendes Angebot, doch für uns leider eine Schuhnummer zu gross.

Donnerstag, 23. August 2007

Mathon GR: Türme, Glocken und Blumen im Chorgestühl

Von Mathon im Schweizer Kanton Graubünden ist bekannt, dass es einst als „Dorf der schönen Glocken“ bezeichnet wurde. Der ansehnliche Kirchturm steht noch da, doch haben wir nur noch eine Glocke sehen und hören können. Glocken sind für uns immer eine Attraktion, auch deshalb, weil Primo gelegentlich ein Glockenlied aus seiner Jugend anstimmt, in dem gefragt wird „Sind die Glocken all‘ da?“ Ein Kanon, vierstimmig, der den Kindern erklären kann, wie verschiedene Glocken zu einem Geläut zusammenfinden.
 
Mena hörte jeweils sofort, wenn in Mathon geläutet wurde. Sie rannte dann, wie von einer Tarantel gestochen, vors Haus. Ich musste nachkommen. Hier sahen wir die Bewegungen der Glocke, und wir ahmten mit unseren Armen den Klöppel nach, der die Glocke anschlägt. Am Mittag und am Abend spielten wir dieses 5 Minuten dauernde Spiel und achteten besonders auf das Ausklingen und die Klangwellen, die lange noch zu uns hinüber schwangen, auch als es schon zu läuten aufgehört hatte. Mehrmals zitierte Mena dann Grossvaters Erfahrung, wie er als kleiner Bub und Leichtgewicht den Glockenstrick in der Bergkirche von Hallau SH ziehen durfte und überraschend von der Glocke emporgezogen wurde. Zum Gaudi seiner grösseren und standfesteren Cousins. Und immer wieder fragte sie, wer hier in Mathon die Glocke schwinge. Vermutlich ein elektrischer Motor.
 
Ich weiss nicht, ob uns Nachbarn bei diesem Ritual beobachtet haben. Vielleicht erinnerten wir sie dann an die Schwarzwalduhr und an den Kuckuck, der zur festen Stunde aus seinem Verschlag hervorkommt.
 
Auch die architektonische Ausstrahlung der ungleichen Türme von Lohn und jene der alten Mathoner Kirche St. Antonius zogen uns an. Schon bei der Anfahrt, kurz nach Zillis im Schams, als das Postauto auf den vorgegebenen Serpentinen fuhr, machten sie auf sich aufmerksam. Selbstbewusst, aber auch einladend, schauten sie auf uns herunter.
Von unserem Ferienhaus in Mathon konnten wir die alten Wege, die der hügeligen Landschaft angepasst sind, überblicken. Heute dienen sie der Anfahrt moderner Landmaschinen, um die Felder zu bewirtschaften. Die Fahrbereiche für die Räder sind betoniert, das Innere des Wegs dem Gras überlassen. Eine feinfühlige Lösung, die der Landschaft einen künstlerlischen Anstrich gibt. Man könnte meinen, hier sei ein Landschaftskalligraph tätig gewesen. Die geschwungenen Linien aller Wege erinnern auch an Darbietungen an Turnfesten, wenn die Teilnehmenden Stoffbänder schwingen. Ich schaute immer wieder auf sie hinunter. Und sie lockten mich, zu ihnen zu kommen.
 
Die einjährige Nora hatte hier ihren Spass, wenn sie vom Grossvater im Kinderwagen so dem Abhang entlang chauffiert wurde, dass sie die Hände ausstrecken und die Grashalme auffangen konnte. Sie lachte auch, wenn diese ihre Backen kitzelten. Auf diesen Wegen blieben wir immer wieder stehen, betrachteten die Blumen, ihre Farben, ihre Formen. Besonders gegen den Abend hin, wenn die Sonne schon etwas von ihrer Stärke abgegeben hatte, leuchtete das Blau der kleinen Glockenblumen wundervoll. Hier fand ich wieder einmal meinen Liebling, das Zittergras, von dem der Dichter Karl Heinrich Waggerl schrieb: Warum am lichten Sommertag / das Zittergras wohl zittern mag? / Im Erdreich fühlts den Höllenwurm, / in Lüften Gottes Atemsturm. / Du Mensch, mit deinem Hirngewicht, du spürst das nicht.
 
Der Blick auf dem Rückweg gehörte dann jeweils nur noch dem alten Turm von St. Antonius, diesem standfesten, charaktervollen und sehr alten Bauwerk. Er steht da, als wolle er alle hinaufziehen, die des Weges kommen. Eigenartig schön ist dieser Turm auch wegen seines allseitig offenen Glockenfensters, das die Durchsicht zum Himmelsblau zulässt. Auf Mathons Homepage ist zu erfahren, dass die Kirche, zu der der eindrucksvolle Turm gehört, schon im Jahre 831 beschrieben worden sei. Heute ist sie nur noch eine geschützte Ruine, strahlt aber Würde aus.
 
Im VOLG-Laden erkundigte ich mich einmal an der Kasse, wann die Kirche geöffnet sei. Da war zufällig die Organistin, Frau Vögeli, auch am Einkaufen. Wir wurden einander bekannt gemacht, konnten ein Treffen vereinbaren. Während sie das Orgelspiel übte, durften Primo, Mena und ich die Kirche besuchen und ihrem Spiel zuhören.
 
Mena ist an allem interessiert, aber auch ein Sommervogel, der gerne herumhüpft. So bat ich die Mama, mir die Ente, Menas Kuscheltier, mitzugeben. Ich stelle immer wieder fest, dass sie sich für etwas Unbekanntes, in ihren Augen auch Geheimnisvolles, öffnen kann, wenn ihr die Ente Sicherheit gibt. Daran kann sie sich halten und sich ohne Scheu etwas Neuem ausliefern. Während dem Orgelspiel begann sie dann leise zu singen.
 
Wichtig war ihr auch der Sitzplatz. Das hölzerne Gestühl ist im Chor mit Blumen und Ranken geschmückt, und davon war sie angetan. Sie suchte sich die in ihren Augen schönste Blume, eine geöffnete Tulpe aus. Hier nahm sie Platz und ich musste mich neben sie setzen. Kaum war das Spiel aus, wollte sie sofort nach Hause, um mit dem Grossvater zusammen solche Blumen und Dekorationen zu malen.

Dienstag, 21. August 2007

Zeit zum Schauen: In Mathon GR, wo Tumasch Dolf lebte

Der Ort Mathon gehört zur Region Schamserberg in Graubünden und liegt auf 1527 Metern Höhe ü. M. Wir erreichten ihn mit der Bahn über Chur und Thusis und mit dem Postauto über Zillis. Ab Zillis werden 500 Höhenmeter innerhalb einer halben Stunde überwunden (bitte beachten Sie dazu auch die im Anhang verlinkten Blogs von Walter Hess). Mit uns reisten Felicitas, unsere ältere Tochter, und ihre beiden Kinder. Übers Wochenende besuchte uns Letizia und vervollständigte unsere Familie.
 
Mathon ist, was wir vermuteten, ein Geheimtipp, ein unverfälschter Ort in der Schweiz. 57 Einwohner und etliche Feriengäste beleben ihn. Er verzeichnet pro Jahr ungefähr 5000 Logiernächte. 8 Bauernbetriebe sorgen sich um die eindrückliche Landschaft und halten sie gesund. Hier gibt es sogar noch eine Post und einen VOLG-Lebensmittelladen.
 
Hier oben waren wir auf Du mit Bergen und Alpen, erlebten unzählige Modulationen von Nebel und Licht. Es machte Spass, den Nebelbänken zuzuschauen, wie sie sich vorwärts bewegten und den Bergmassiven entlang schlichen. Manchmal befanden wir uns selbst in der Wolke, was vor allem der 5-jährigen Mena gefiel. Meist aber beobachteten wir die Stimmung und die Alpen mit ihren vielen „Dahinter“ von unserem von der Natur geschaffenen Balkon aus. Hier oben wurde einem nicht bang. Der Raum zwischen den Bergen ist weit. Unten im Tal führt die Strasse zum San Bernardino. Kein Tag präsentierte sein Licht und seine Farben wie der vorangegangene. Wir hatten Zeit zum Schauen, fühlten uns wohl und beschenkt. Der zeitweilige Regen störte uns nicht. Auch er gehörte zum Geschehen.
In Mathon wuchs der rätoromanische Liederkomponist, Lehrer und Erzähler Tumasch Dolf auf. Sein aussergewöhnliches Elternhaus fiel mir schon am ersten Tag auf. In Mathon sind zudem mehrere prächtige Scheunen in der Blockbau-Art zu bewundern. Einige tragen Braun, ganz alte Grau. Ihr Silber strahlt aus und symbolisiert das Alter in Würde. Ich fragte mich immer wieder, wie die Bauleute diese prächtigen Baumstämme ohne technische Hilfsmittel aufeinander schichten konnten. Es müssen Bärenkräfte vorhanden gewesen sein.
 
Eine Gedenktafel am Geburtsthaus von Tumasch Dolf verweist in surselvischem Romanisch auf die Herkunft des Mathoner Künstlers. Es heisst da in deutscher Übersetzung, die ich seinem kleinen Erzählband „Meine Geige“ entnehme:
 
Elternhaus von
Tumasch Dolf
1889–1963
Komponist und romanischer Schriftsteller
Sammler von Volksliedern
 
Die schlichten Erzählungen seiner Kindheit öffneten mir sogleich den Zugang zu diesem Ort, seinem Wesen und den Blick rückwärts in eine Zeit, in der von allen viel körperliche Leistung und ein übergrosser Durchhaltewille gefordert wurden. Tumasch berichtet da beispielsweise von seinem ersten Gang nach Thusis. 7- oder 8-jährig muss er gewesen sein, als er den Vater dorthin begleiten durfte. Die Kuh Bregna wurde verkauft und sollte abgeliefert werden. Man stelle sich vor: Die beiden machten sich vor dem Morgengrauen auf den Weg, die Kuh an ihrer Seite, führten diese zum Käufer nach Thusis und kamen am selben Tag, in tiefer Nacht, auch wieder zu Fuss, zurück. Kein Wunder, dass der Bub total erschöpft war und auf dem letzten Wegstück mit seinen 500 Metern Steigung nicht mehr weitergehen wollte.
 
Eine andere Geschichte behandelt die Weihnachtsfeier in Plambi (heute nennt sich der Ort Lohn). Da sah der Erzähler erstmals einen Christbaum. Er war innerhalb einer Schar Schüler und Schülerinnen aus Mathon zur Feier in die Kirche gekommen. Sie trafen viel zu früh ein, klopften wegen der grossen Kälte bei einem alten Geschwisterpaar an, das sie aufnahm und ihnen von ihrem Wenigen, das sie besassen, austeilte. Eine Schnitte Brot, bestrichen mit Kastanienhonig. Tumasch sinniert beim Erzählen, dass die beiden Alten vielleicht nur dieses eine Brot und nur diesen Honig besassen und ihnen trotzdem grossmütig verteilten. Solche Haltung kenne ich auch von meinen Vorfahren und darum bin ich in innersten Schichten angesprochen. Wer solche wahre Geschichten mag, dem sei das folgende Taschenbuch empfohlen:
 
Tumasch Dolf:  „Meine Geige“, Erzählungen, Pano Verlag Zürich
 
In weiteren Beiträgen werde ich wieder von Mathon berichten.

Mittwoch, 1. August 2007

CH-Nationalfeiertag und die kämpferische Hymne von einst

Zu den Themen 1. August und Heimat fällt mir allerhand ein. Zuerst aus der Kindheit: Da waren die Abende unseres Nationalfeiertags etwas aussergewöhnlich Schönes. Damals war der 1. August noch ein normaler Arbeitstag, aber am Abend stieg man auf eine Anhöhe, hielt sich um ein grosses Feuer auf und schaute in die Ferne nach andern Feuern auf anderen Hügeln aus. Wir Kinder trugen ein Lampion und erhellten so den Weg durch den dunklen Wald. So schlicht zu feiern, blieb mir bis heute massgebend. Ich brauche keine Raketen. Sie sind mir zu laut, erschrecken die Tiere, verschmutzen die Luft. Sie stören mich und sie zerstören die stillen Gefühle der Heimat gegenüber. Denn an diesem Abend möchte ich besonders über mein Leben hier in der Schweiz sinnieren.
 
Ja, ich gebrauche das Wort Heimat immer noch, auch wenn es schon Politiker gegeben hat, die es gern abgeschafft hätten. Heimat ist ein Begriff wie tausend andere, der positiv oder negativ eingesetzt oder missbraucht werden kann, je nach persönlichen Erfahrungen und den Einflüssen von Eltern und Umwelt. Für mich ist der Begriff wohlwollend besetzt. Heimat ist der Ort, wo ich meine Wurzeln habe, wo ich auf die Welt gekommen bin, meine Augen erstmals geöffnet und meine ersten Entdeckungen gemacht habe. Heimat ist mir seit langem das Leben mit meinem Ehemann Primo. Zur Heimat gehört meine Sprache. Der Ort auch, wo ich verstanden werde. Und Heimat im grösseren Sinn ist das Land und das Volk, dem ich angehöre. Ich liebe die Landschaft und die Berge und die Eigenheiten und Sprachen in allen Kantonen der Schweiz. Ich schätze Werte, die mir hier vermittelt wurden. Je älter ich werde, desto öfter fühle ich aber Heimweh im eigenen Land. Viele Werte sind uns abhanden gekommen, ohne dass sich neue etablierten. Dass heute alles nur materiell bewertet wird, der Wirtschaft dienen muss und von ihr gesteuert ist, das gehört nicht mehr zu meinem Menschsein in der Schweiz. Ich distanziere mich auch vom Rassismus, der sich hier eingenistet hat. Ich spüre einfach, dass ich ein Auslaufmodell geworden bin.
Am diesjährigen 1. August werden die Enkelkinder den Abend beleben, und auf sie soll er zugeschnitten sein. Mena hat dem Grossvater bereits das Schweizer-Fahnentuch übergeben, dass er es an einem passenden Stecken befestige. Dieses Tuch hat sie von ihrer Tante zur Geburt erhalten. Und es hiess dazu, Mama solle sie darin einwickeln, damit sie eine rechte Schweizerin werde.
 
Mena ist in Kanada zur Welt gekommen, geht in Paris zur Schule, hat einen Schweizer Pass und einen Vater, der aus dem mittleren Osten stammt. Es wachsen da verschiedene Einflüsse in ihr, die alle am Heimatgefühl mitgestalten. Sie wird den Begriff einmal anders definieren als ich. Und das ist auch gut so.
 
Müsste ich Heimat fotografieren, wäre es ein altes Dampfschiff auf dem türkisfarbenen Urnersee, an dessen Heck die Schweizerfahne flattert. Mein Erstlingseindruck von der Schulreise 1951 aufs Rütli. Dieses Bild trage ich als kostbaren Schatz in mir.
 
Ich selbst habe erst begriffen, was Heimat ist, als ich in die Fremde ging. Da stürmte so viel Unbekanntes und Unverständliches auf mich ein und ich konnte mich nicht präzise ausdrücken. Vor allem gab es anfänglich keine Sprache, die mein Befinden oder meine Gefühle hätten beschreiben können. Das ging damals Vielen so. Wir hatten keine Reiseerfahrung, kannten andere Völker höchstens aus Büchern, vielleicht noch von Radio-Reportagen.
 
Wenn ich jetzt erzähle, dass mich meine Freundin Pia, auch eine Schweizerin, jeden Sonntag in meinem Zimmer an der Rue St-Placide in Paris besuchte und dass wir dann meistens die damals gebräuchliche Schweizer Vaterlandshymne sangen, um unser Heimweh noch ein bisschen zu steigern, dann werden viele, die das lesen, den Kopf schütteln. Ich jetzt auch. Nicht deswegen, weil wir ein wichtiges Lied, das unserem Herkunftsland gewidmet war, anstimmten, sondern über dessen Inhalt. Ich entnehme den Text dem Liederbuch „S Liedergärtli“ mit Untertitel „Was wir Mädchen singen“.
 
Ist es da verwunderlich, dass wir damals anders dachten und dass die Frauenrolle eine andere war? Wir sangen dieses Lied, ohne den Text wirklich zu verstehen. Es war für uns einfach etwas Vertrautes, das wir von feierlichen Momenten her kannten.
 
Meine Schlummermutter, eine vornehme Französin, fragte mich einmal, warum wir auch die englische Nationalhymne sängen, wir seien doch Schweizerinnen. Die Melodie war für beide Länder die gleiche. Der Text aber verschieden.
 
Vaterlandshymne
 
1. Rufst du, mein Vaterland, sieh‘ uns mit Herz und Hand all‘ dir geweiht. Heil dir, Helvetia, hast noch der Söhne ja, wie sie Sankt Jakob sah, freudvoll zum Streit!
 
2. Da, wo der Alpenkreis nicht dich zu schützen weiss, Wall dir von Gott, steh’n wir den Felsen gleich, nie vor Gefahren bleich, froh noch im Todesstreich, Schmerz uns ein Spott.
 
3. Frei und auf ewig frei, ruf‘ unser Feldgeschrei, hall‘ unser Herz! Frei lebt, wer sterben kann, frei, wer die Heldenbahn, steigt als ein Held hinan, nie hinterwärts.
 
4. Doch wo der Friede lacht, nach der empörten Schlacht, drangvollem Spiel, o da viel schöner, traun, fern von der Waffen Graun’, Heimat, dein Glück zu baun’n, winkt uns das Ziel.
 
Dieses Lied verkörperte die wehrhafte Schweiz und lehnte sich sicher an die söldnerische Vergangenheit an. Die Frauen sind verborgen in der Heimat und im Glück, die die Männer fern von der Waffen Graun bauen wollen.