Montag, 9. September 2019

Der alte Mann vom Salzweg


Es sind schon 7 Jahre her und immer noch denke ich an ihn, wenn ich auf dem Salzweg Richtung Friedhof Eichbühl gehe.
Ich begegnete ihm zufällig, beobachtete, wie er seinen Rollator mühsam aufwärts schob. Die Sonne schien. Sie hatte mich hinaus gelockt.

Auf diesem steilen Weg traf ich zufällig einen alten Mann, der seinen Rollator mühsam aufwärts schob. Immer nach ein paar wenigen Schritten musste er anhalten und durchatmen. Ich fragte, ob ich helfen könne. Nein! Er brauche den Rollator, um vorwärts zu kommen. Wenn ich etwas helfen wollte, könne ich ihm dieses oder jenes schenken: Zum Beispiel eine Maschine, die das Glas herstelle und ähnlich Unmögliches. Ich sagte: Er habe Humor. Da wurde er beinahe wütend, stampfte und antwortete, er habe keinen Humor. Oha! Ich aber sagte, auf seinem Gesicht sei doch ein Lächeln erschienen. Da verwandelte er sich, wurde freundlich und erklärte, er müsse sich doch tarnen.
Ich ging neben ihm her, weil ich mir vorstellen konnte, dass er froh sei, dass ich ihm helfe, denn die Last war schwer, um diese in die Wohnung zu tragen. Lebensmittel-Einkäufe in 2 Taschen und eine grosse Packung Toilettenpapier. Er informierte mich, dass sich seine Wohnung im 2. Stockwerk im «schlechtest gebauten Haus», wie er es nannte, befinde. Ich werde sehen. Wirklich, er hatte recht. Ich erlebte aber vorher auch noch seine Mühsal mit der Parkierung des Rollators. Und zusätzlich musste er sich im engen Treppenhaus regelrecht hochziehen. Die schmale Spannweite ermöglichte eine unglaubliche Leistung.

Oben, in seiner Etage wartete ein Stuhl auf dem Boden vor der Wohnungstür. Dort setzte er sich sofort nieder, erholte sich langsam, bevor er seine Wohnung öffnete. Es war eine Expedition. Tief beeindruckt nahm ich seine Einladung an. Wir setzten uns an den Küchentisch. Dann erzählte er aus seinem Leben. Als er sich hingesetzt hatte, sagte er als Ausgangspunkt, er sei Jude und als Kind ungeliebt aufgewachsen. In Amerika. Bei Nachbarn habe er sich mehr zu Hause gefühlt als bei den Eltern. Von diesem Ehepaar aus Oesterreich und Deutschland habe er viel lernen können. Vor allem Deutsch. Wenn ich mich recht erinnere, lernte er später den Nobelpreisträger Walter Rudolf Hess kennen und durfte für ihn Texte übersetzten. Als er davon sprach, huschte Freude über sein Gesicht.

Als ich von seinem Übersetzungstalent hörte, sagte ich, ich hätte schon am Anfang unseres Gesprächs gedacht, er sei ein Mann, der nur ein einziges Wort, als das präziseste für eine Sache dulde. Da schaute er auf. Sein Gesicht wurde hell und die Augen füllten sich mit Tränen.

Dann wollte er wissen, ob ich das Restaurant «Oefeli» in unserer Umgebung kenne. Er möchte mich dort einladen. Dort treffe er öfters Professoren seines akademischen Grades.

Als wir uns verabschiedeten sagte er nochmals sehr freundlich: «Sie sind eingeladen.» Unsere Gespräche erstreckten sich über 2 Stunden. In dieser Zeit entstand ein inneres Bild einer Lebensgeschichte und ich fühlte, wie es sein muss, wenn die Kräfte nachlassen und Mitmenschen wegsterben.

Das Haus, in dem ich seine Wohnung betreten durfte, wurde nach unserem Zusammensein sehr bald abgebrochen. Und ein grösseres Haus aufgebaut.

Diesen Mann habe ich nie mehr angetroffen, weder im Coop-Laden in seinem und meinem Umfeld, noch auf dem steilen Salzweg. Ich denke jeweils an ihn, wenn ich dort vorbeikomme.