Mittwoch, 26. Oktober 2011

Goldmarie-Gefühle: Linden auf dem Römerhügel-Kraftort

Herbstwetter. Die Sonne scheint. Farben leuchten auf. Da mache ich Pause, gehe zum Römerhügel, sitze unter eine der Linden, fühle mich wie die Goldmarie im Märchen. Die gelb gewordenen Blätter fallen über mich herab. Ich schaue ihnen zu, wie sie vom Wind weggeschubst werden und wie einige ihren Schatten im Flug vorausschicken. Hier verweile ich immer gern. Von hier aus kann ich auf Blumenfelder niederschauen. Noch immer blühen Dahlien. Nebenan stehen Sonnenblumen stramm da, und eine Frau sucht gerade nach den schönsten für einen Strauss. Weiter oben stehen die Treibhäuser von Tony Navarro. Eines beherbergt das Erlebnis-Restaurant Triibhuus. Hier wird in einem echten, umfunktionierten Treibhaus in tropischem Ambiente unter Palmen getafelt und gefeiert. Hierhin lade ich Freunde immer gerne ein.
Und da, wo ich sitze, sind die Archäologen auf Überreste des römischen Gutshofes Loogarten gestossen. Die beiden Linden scheinen über diesen Schatz zu wachen. Nebenan berichtet der Text auf einem Findling von der Geschichte dieses Ortes:
 
Auf Veranlassung der ortsgeschichtlichen Kommission Altstetten wurden in den Jahren 1955, 1960, 1963 und 1964 an dieser Stelle archäologische Ausgrabungen durchgeführt. Sie ergaben Überreste einer römischen Villa Rustica aus dem 2. + 3. Jahrhundert nach Christus.
 
Orte, wo Römer siedelten, gelten allgemein als gute Plätze. Und so erlebe ich es hier auch. Der Platz ist friedlich, schenkt Übersicht. Da ist mir wohl. Und die Bäume sind meine Freunde geworden. Es war Liebe auf den ersten Blick, als ich sie nach unserem Umzug nach Altstetten erstmals sah. Inzwischen konnte ich ihnen zu einem besonderen Status verhelfen. Die Zeitschrift OLIV nahm den Platz in der April-Ausgabe 2011 als „meinen Kraftort“ in ihre diesbezügliche Rubrik auf. Er ist auch im Internet unter Kraftorte Oliv abrufbar.
 
Im Blog vom 02.02.2011 erzählte ich, dass ich nach meinem Kraftort gefragt wurde. Da stand zuerst Schlierenberg als unser Lieblings-Naherholungsgebiet im Mittelpunkt , doch gelang es nicht, dieses weite Gebiet mit seinen vielen Facetten fotografisch auf einen Punkt zu bringen.
 
Es brauchte die Rückbesinnung auf eine ganz bestimmte Foto, die mir bewusst machte, dass der Römerhügel mit seinen Linden mein Kraftort sei. Schon die Art, wie ich zu dieser Aufnahme kam, erklärt, dass mich Linden magisch anziehen können. Damals ganz besonders. Ahnungslos kam ich auf dem Salzweg daher, schaute wie üblich nach dem Hügel aus und erlebte ein Bild, wie wenn in diesem Augenblick ein Theatervorhang hochgezogen worden wäre. In heiterem Licht standen die entlaubten Bäume auf der Bühne. Was war es, was mich so packte? Vielleicht die Art der beiden, wie sie zusammenstehen, ohne einander zu bedrängen. Nackt waren sie. Das Laub zu ihren Füssen. Ihr Wuchs gesund und stark. Ihre Formen harmonisch. Es ist ein Atem in diesem Bild, obwohl sich nichts bewegt. Das Leben ist hier eingefangen. Dass ich an jenem Tag einen Fotoapparat auf mir trug, war purer Zufall.
 
Nun ist dieser Hügel mit den Bäumen und dem offenen Himmel bei Kraftorte Oliv eingereiht. Anders als Menschen, die sich verändern, wenn sie ausgezeichnet werden, ist er der Ursprüngliche geblieben. Einer, der sich wie immer schon nur nach den Jahreszeiten ausrichtet. So wie er auf dem Bild erscheint, so ist er bald wieder anzutreffen. Noch trägt er etwas Laub.
 
Obwohl mich dieser Römerhügel seit unserer ersten Begegnung immer wieder ansprach, brauchte es noch diese Frage nach meinem persönlichen Kraftort, bis ich begriff, was er für mich ist.

Donnerstag, 13. Oktober 2011

Klänge: Im Dunkeln oder mit geschlossenen Augen sehen

Ich hatte die Augen geschlossen, hörte nur der Glocke von der kleinen Kirche am Suteracher zu. Ich wartete auf jemanden. In der Rückschau deute ich jene wenigen Minuten als innerlich freier Augenblick. Ohne rückwärts oder vorauseilende Gedanken. Ich war nur da. Und dann lief vor den inneren Augen ein kleiner Film ab. Unerwartet und spannend. Ich sah ein breites Band vorbeiziehen. Es sah aus, als ob es auf der linken Seite aufgerollt werde. Es füllte anfänglich mein ganzes Blickfeld, dann wurde ich aber auf einen schwarzen Balken aufmerksam, der die Bildfläche unterteilte. Nur wenige Millimeter breit. Das Band, das ich bisher wahrgenommen hatte, bewegte sich ab dieser Grenze. Und bis zu ihr hin bewegte sich ebenfalls eines und endete scheinbar an dieser harten, geradlinigen Sperre. Der linke Teil entsprach etwa 2 Dritteln des gesamten Bildes, derjenige rechts der Grenze einem Drittel. Vielleicht wurde der von rechts fliessende Teil unter der Trennlinie hindurchgeführt, doch ist das nur eine Vermutung. Aber ich wusste sofort, dass ich hier die Darstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehe.
 
Die Vergangenheit rollt sich in diesem Film zur Geschichte auf. Die Gegenwart ist kurz, streng beschnitten, dem Augenblick vergleichbar. Und die Zukunft kommt aus dem Nichts daher. Dieser eine Drittel hat noch keine Geschichte, führt vielleicht Ideen und den Zeitgeist in die Gegenwart, in der die zukünftige Geschichte entsteht.
 
Ich war schon wieder in meiner realen Umgebung angekommen, als mich die erwartete Person ansprach. Ich wurde nicht aus dem Erlebnis herausgerissen, konnte es in der Zwischenzeit noch überdenken und es mir merken.
 
Ein zweites Augenerlebnis
Barbara Hutzl-Ronge, die Autorin von „Magisches Zürich“ und „Magischer Bodensee“ führte uns – etwa 30 Personen – ab Wilchingen-Hallau zum Osterfinger Aussichtspunkt „Uf Stuel“. Dort befindet sich ein ausgedientes Wasserreservoir, das von der Künstlerin Anna-Maria Bauer in einen Klangkörper umgewandelt worden ist. Wassertropfen fallen aus einer geometrischen Linienstruktur von der Decke, und wo sie auftreffen, bringen sie Metallschalen und das gefallene Wasser zum Schwingen und Klingen. Es tönt zuerst so, wie es zu Hause in der Küche tönt, wenn der Wasserhahn nicht mehr dicht ist. Nur sind hier verschiedene Tropfen am Fallen so angeordnet, dass sie ein Klangmuster hervorbringen.
 
Ich gehörte der 1. Gruppe an, die in die Tiefe hinabstieg. Wir wurden angehalten, uns den Wänden entlang hinzustellen. In der Mitte, am Boden, standen die erwähnten Messingschalen. Die junge Frau, die unsere Gruppe hinunter führte, trat ebenfalls ein und schloss dann die schwere Bunkertür. Augenblicklich umfing uns totale Dunkelheit. Wie geheissen, standen wir still, hörten auf die Klänge der Wassertropfen. Die Begleiterin stand mir gegenüber und vor der Tür. Sie muss sich immer wieder einmal hin und her bewegt haben, denn dann sah ich ein kleines Licht durch das Schlüsselloch.
 
Es beruhigte mich, dass sie da war und das Eingeschlossensein mit uns teilte. Nach etwa einer Viertelstunde summte ein Mann kaum hörbar eine Melodie. Wir erkannten das Lied, stimmten ein. Der Raum fing es auf, mischte unsere Stimmen und gab uns den gemeinsamen Klang als unser Kunstwerk zurück. Es war eines, das von tiefen Männerstimmen geprägt war und der Tiefe dieses Ortes entsprach.
 
Und doch: Für mich war die Arbeit der Augen noch grösser. Auch ein Kunstwerk. Sie passten sich der anfänglich vollkommenen Dunkelheit an und hellten mir nach und nach den Raum auf. Noch bevor uns die Begleiterin die Tür wieder öffnete, konnte ich die Personen, die sich hier aufhielten, sehen. Sie trugen weiss-gräuliche Kleider, obwohl doch alle farbig gekleidet waren. Alle verhielten sich geduldig und still. Ich fühlte mich in einem Warteraum zwischen Tod und Auferstehung. Dann wurde die Tür geöffnet. Licht drang ein. Wir kehrten ins Freie und in unser Leben zurück, still und in uns gekehrt. Und draussen wunderten wir uns über das Sonnenlicht und die weite Landschaft. Alles erschien jetzt grösser und noch schöner.
 
Foto-Hinweis
Unter Klangreservoir Anna-Maria Bauer können im Internet Fotos gefunden werden.

Sonntag, 2. Oktober 2011

Der Durchfall, wie wir ihn kennen und sonst noch nennen

Ich fühle mich erleichtert, weil ich endlich weiss, warum so viele Fruchtfliegen in der Küche herumtanzten. Das war gar nicht so schnell auszumachen. Ich staune immer, wenn sie auftauchen und ich noch nicht die geringste Ahnung habe, welche Süsse sie angezogen hat.
Ich fühle mich auch erleichtert, dass sich die Magen-/Darmgrippe nach und nach zurückzieht, auch wenn ich nicht weiss, welche Wesen dafür verantwortlich sind. Ich konnte keine Darmfliegen wahrnehmen, die mich gewarnt hätten.
 
Es war ein Überfall und der Schrecken gross. Die Sturzbäche der grüngelben leimigen Masse nicht aufzuhalten. Diese Sauerei. Wie gut ich mich auch immer eingepackt hatte, um die Sturzbäche aufzufangen, sie fanden ihren Weg gleichwohl an den Rändern der Textilien vorbei, weil sie flüssig waren und unter Hochdruck standen.
 
Diese mehrtägige Tortur ist gewiss ein Eingriff meiner Selbstheiligungskräfte und einer Hochdruckreinigung in den Rohren unserer Abwässer vergleichbar. Erschüttert war ich gleichwohl, denn eine Magen-Darm-Grippe nimmt schnell alle Energie! „Viel trinken, gell. Und dann Reis-Schleim, Hühnerboullion, und später geraffelte Äpfel mit zerdrückter Banane! – Jetzt lachst Du sicher!!!" schrieb mir Felicitas, denn das war immer die aufbauende Nahrung nach Durchfall oder Erbrechen, als die Kinder/Töchter noch bei uns zu Hause lebten. Ähnlich tönte es von der jüngeren Tochter. Ich freute mich über diese unerwarteten Rückmeldungen und die Gewissheit, dass alle Erfahrungen zum Lebensreichtum gehören. Das waren auch Lichtblicke, die meinen diffusen Zustand etwas erhellten.
 
In den Träumen tauchten alte Geschichten auf, Fragen, Worte, klebrige Antworten. Aber nur als Fetzen und Teile eines Ganzen. Es war, wie wenn sie bei der Reinigung aus ihrem Zusammenhang gerissen worden wären und nun versuchten, noch einige Worte davon in die Welt hinaus zu schreien. Wird das auch so sein, wenn uns der Tod aus dem Leben holt?
 
Döste ich leicht und erwachte von Zeit zu Zeit, standen oft Dialektworte rund um diesen Schissdräck (Kot) vor mir. Ich fühlte, dass ich mich in einem sehr menschlichen Zustand befinde und dass alle Mitmenschen diesen gut kennen müssen. Denn alte, und vor allem vulgäre Worte, um die es sich hier handelt, reden von zutiefst menschlichen Erfahrungen, denen wir von Zeit zu Zeit ausgeliefert sind. Als dann die Kräfte etwas zurückkamen, holte ich das vom Verlag Neue Zürcher Zeitung herausgegebene „Zürichdeutsches Wörterbuch“ hervor und suchte nach dem Begriff Schiiss (Exkrement, Kot) und fand allerlei mir gut bekannte Begriffe, die mich an den schleimigen Kot erinnerten. Schiisser = Feigling, Schiissfras = schlechtes Essen, Schiisswar, schlechte Ware, Schiiszüg = schlechte Sache usw. Und immer wurde ich an die grüngelbliche klebrige Masse erinnert, besonders auch im Wort schiissfrüntli = übertrieben freundlich. Von ganz unfolgsamen, nicht lenkbaren Kindern sagte man zu meiner Zeit „Die Chind folged en Schiissdräck“. Und diese Redewendung befindet sich auch im Wörterbuch.
 
Der Klang der erwähnten Worte führen mich denn auch an meinen Herkunftsort, ins Zürcher Oberland. In die Familie, zu den Verwandten, die kaum Schriftdeutsch sprechen konnten. Ich höre sie gern, auch wenn sie nicht salonfähig sind. Sie führen mich an meine Wurzeln zurück.
 
Zu den Erfahrungen in der Familie gehört aber auch das Gegenstück. Die Ordnung und Sauberkeit, damit ein Patient gesunden kann. Die Hilfe, dass die Lebenskräfte zurückkehren können. Langsam, behutsam. Und diese fängt bei einem sauberen Bett an. Daran erinnere ich mich besonders gern. Waren wir krank, wurden wir am Morgen in die Stube geschickt. Mutter erfrischte das Bett, schüttelte Leintücher und Decken unter dem Fenster aus, richtete alles neu. Sie lüftete den Raum. Und dann durften wir zurückkehren. Das war ein Hochgenuss für mich. Auch heute noch. Steige ich ins frisch bezogene Bett und ziehe den frischen Duft der sauberen Leintücher in mich ein, immer ist meine schon viele Jahre verstorbene Mutter auch dabei.