Besuch beim Zahnarzt, ganz genau gesagt bei seiner
Dentalhygienikerin. Wie üblich, gehe ich mit gemischten Gefühlen an
diesen Ort und bin dann jeweils erleichtert, wenn ich ohne zahnärztliche
Zusatzbehandlung wieder entlassen werde.
Diese Reinigungs-Prozedur, die jeweils gute ¾-Stunden dauert,
bringt mir jetzt sogar eine gewisse Entspannung. Das war nicht immer so.
Weil mich aber immer die gleiche Angestellte behandeln kann, gewöhnten
wir uns aneinander. Es entwickelte sich Vertrauen.
So lag ich vorgestern einigermassen entspannt auf dem
Behandlungsbett, und während Frau V. nach Anzeichen von Zahnzerfall
forschte, erinnerte ich mich plötzlich an meine Mutter. Sie wuchs mit 8
Geschwistern im Zürcher Oberland auf. Die Verhältnisse waren bescheiden.
Zahnpflege war da kein Thema. So konnte sich die Karies unbeobachtet
ausbreiten, und als Mutter 20-jährig war, wurde ein Gebiss fällig.
Damals nichts Aussergewöhnliches. Man schrieb das Jahr 1932. Es soll
sich in jenen Jahren sogar die Gewohnheit entwickelt haben, den jungen
Frauen vor der Hochzeit die Zähne zu ziehen, damit der Ehemann keine
Kosten für zukünftig anfallende Zahnbehandlungen befürchten musste. Im
Elternhaus meiner Mutter dachte man aber nicht so. Die Zähne waren
einfach schon alle angegriffen. Und das leidige Zahnweh sollte
unterbunden werden.
Mit einigen anderen jungen Frauen fuhr Mutter dann von Wald ZH über
Rüti ZH und Rapperswil SG ins glarnerische Mollis, wo ihr alle oberen
Zähne, einer nach dem andern und ohne die geringste Betäubung, gezogen
wurden. Mutter fiel in Ohnmacht, wie andere auch. Im Laufe des Tages,
nachdem alle behandelt worden waren, kehrten sie dann in ihr Dorf
zurück.
Immer wenn uns Mutter diese Ohnmachtsgeschichte erzählte, fühlte
ich ihre Ängste mit und hoffte, dass ich so etwas nie erleben müsse.
Heute hätte ich dazu noch einige Fragen, die mir damals nicht in den
Sinn gekommen sind: Wer organisierte solche Reisen nach Mollis? Wie
stärkten sich die jungen Frauen unterwegs? Was konnten sie nach der
„Rosskur“ noch essen? Wer bezahlte die Kosten der Bahn und die
Rechnungen des Zahnarzts? Was hatte das überhaupt gekostet? Das müssen
Riesenauslagen gewesen sein. Konnten sie einen Kredit aufnehmen? Aber,
wer lieh solch Minderbemittelten überhaupt Geld ohne Garantie, dass
dieses je zurückbezahlt werde?
Mutter arbeitete damals als Weberin in einer Fabrik. Ich vermute,
dass sie sich diese grosse Auslage selber erspart hatte. Sie konnte gut
mit Geld umgehen, auch sparen, ohne geizig zu sein. Aber kurz vor der
Heirat, als sie das Geld für eine Wäsche-Aussteuer, es waren 600
Schweizer Franken, beisammen hatte, ging ihre Bank in Konkurs. Alles war
verloren.
Auch das Gebiss hatte noch seine Geschichte. Es war von tadelloser
Qualität, hielt viele Jahre, doch eines Tages brach es entzwei. Mutter
kaufte sich den Alleskleber „Cementit“ und flickte es. Lange hielt ihr
Werk aber nicht. Erneut brach es auseinander. Ich beobachtete, wie
bekümmert sie war. Ich weiss nicht, wie sie es dann anstellte, um doch
noch ein neues Gebiss zu bekommen.
Bevor mich Frau V. aus der Zahnpflege entliess, erzählte ich ihr
noch die hier eben beschriebenen Gedanken. Sie ist jünger als ich,
konnte den Beruf als Dentalhygienikerin erlernen, als er neu geschaffen
wurde. Sie dachte sofort an die vielen Präzisions-Werkzeuge und
Hilfsmittel, die ihr heute zur Verfügung stehen und die es damals noch
nicht gegeben hat. Unvorstellbar für sie, wie grob die Menschen damals
behandelt worden sein müssen. Und ohne Betäubung, dünkt mich, muss eine
solche eine Art Vergewaltigung gewesen sein. Sie mussten viel mehr
aushalten als wir heute, war unsere abschliessende Meinung zu diesem
Thema. Und waren darum auch stärker als wir es heute sind.
Aber Mutters Ohnmacht drückt noch etwas anderes aus. Sie war „ohn Macht“, musste einfach alles geschehen lassen.