Eine Erinnerung, die mich immer noch umtreibt. In der Primarschule erfuhr ich, dass der Fluss mit dem Namen Rhône im Umfeld von Martigny
VS einen abrupten Richtungswechsel vollziehe. Anfänglich in der
Richtung von Ost nach West fliessend, verlangt hier die Topographie
einen Richtungswechsel nach Norden. Der Lehrer zeigte uns die markante
Biegung auf einer grossen Landkarte. Er sprach von etwas
Aussergewöhnlichem. Darum blieb es in mir haften. Vor allem auch wegen
der Bezeichnung, die man diesem Ort gegeben hat: Rhôneknie.
Ich war schon etliche Jahre verheiratet, als wir auf einer Ferienreise in Martigny
anhielten und versuchten, das Naturwunder zu sehen. Jahre später fuhren
wir mit den Velos ab Oberwald im Goms durch das Rhônetal und machten
selbstverständlich wieder Halt im Umfeld der einst römischen Stadt. Von Saillon und Fully herkommend, auf derselben rechten Flussseite wie beim ersten Besuch.
Und jetzt, das dritte Mal, fanden wir die Mitte dieses Naturphänomens, näher geht es nicht mehr.
Das Rhôneknie ist kein touristischer Ort, also still, geheimnisvoll, eine Überraschung, wenn er gefunden wird.
Diesmal verwischte die neue Zufahrt zur Autobahn unsere Erinnerung.
Wir mussten den Weg zuerst suchen. Den markanten Taleinschnitt Richtung
Genfersee vor Augen, gingen wir vorwärts. Wir kamen an einer grossen
Aprikosenplantage vorbei und folgten der Pappelallee, einer Art Spalier
für die dahinter kanalisierte La Dranse. Da wussten wir noch nicht, dass ihr Wasser in die Rhône mündet und dass wir den Zusammenfluss bald sehen würden.
Unser Fussweg führte uns unter der Autobahnbrücke hindurch und
danach auf einem breiten Wanderweg auf der linken Flussseite weiter. Von
weit her schon sah Primo weisses Wasser als eine Strömung quer zur La Dranse fliessen und ortete dort die Rhône,
die wir suchten. Sie schien sich zu verstecken. Erst später bemerkten
wir, dass wir die wild verwachsene Flussbettmauer als einen Ausläufer
des Waldes am dahinterliegenden Abhang verstanden hatten. Sie ist von
Gras, Bäumen und Sträuchern wild überwachsen und schirmte aus unserem
Blickwinkel den Raum der Rhône ab. Je näher ich dem Zusammenfluss der
beiden Wasser kam, desto mehr freute ich mich. Es bewegt mich jedes Mal,
wenn ich an Orten stehe, wo sich Wasser vereinen. Hier treffen die
milchig-weisse Rhône, die sich aus dem Rhônegletscher im äussersten Nordosten des Kantons Wallis ergiesst, mit dem Gebirgswasser aus drei Flüssen, der Dranse d'Entremont vom Col du Grand Saint Bernard, der Dranse de Bagne und der Dranse de Ferret zusammen.
Eine Zugabe für uns, schon bevor wir unser angestrebtes Ziel
erreicht hatten. Ein Ort mit wohltätiger Energie, mit feinsten
Schwingungen. Die Freude war mir ins Gesicht geschrieben, wie ich später
aus Fotos lesen konnte. La Dranse führte wenig Wasser. Wir
konnten in ihr Bett steigen und angeschwemmte Steine bewundern. Sie
lagen in feinem, schillerndem Sand. Mit farbigen Adern, Mustern und
Gesichtern, keines dem Anderen gleich. Aber alle beflügelten unsere
Fantasie. Mitten im Flussbett lagen mächtige Gesteinsbrocken, und das
Wasser sauste über sie hinab. In diesem Geröll hatte sich ein dünner,
aber knorriger Baumast verfangen. Es sah aus, als würde hier gerade ein
Kranich vorüberziehen. Er und die grossen Steine gaben dem begradigten
Fluss mit seinen strengen Mauern etwas Liebliches zurück.
Und da lag auch ein Stück trockene Baumrinde, die zum Spielen
animierte. Primo brach sie in 3 Teile. Wir warfen 2 von ihnen ins Wasser
und schauten zu, wie sie sich forttragen liessen. Beide gaben sich den
Strömen offensichtlich lustvoll hin. Locker wurde der Übergang vom einen
ins andere Wasser geschafft. Dann ging die Reise auf der reissenden Rhône
stürmisch weiter. Der dritten Borke verpasste Primo mit dem Sackmesser
einen dünnen Ast und machte sie zu einem Segelschiff. Auch dieses wollte
ebenfalls verreisen, eiferte den vorangegangen nach. Ich konnte es noch
fotografieren, dann kenterte es, ging aber nicht unter. Solche Spiele
haben oft etwas Magisches an sich, weil wir sie mit Fragen behängen.
Hier unsere Lebensschiffe, haben sie noch einen weiten Weg vor sich oder
gehen sie bald unter ...?
Wir blieben lange an diesem Ort, schauten auch auf das Wasser, wie
es sich kräuselte, weil der bekannte Rhônetalwind vom Genfersee her den
Fluss manchmal rückwärts schicken will. Ein Kräftespiel zwischen Luft
und Wasser. Meine Haare standen zu Berge. Dieser Wind ist unerbittlich,
frischt aber auf. Wir kennen ihn gut, hatten ihn auf der erwähnten
Velotour als Gegenwind erlebt.
Nach diesem schönen Aufenthalt überquerten wir die Fussgängerbrücke über La Dranse,
und schon waren wir am Rhôneufer angekommen. Jetzt wurden die
Zusammenhänge klar. Von hier aus liefen wir wie der Wind dem Fluss
entgegen. Konnten zuschauen, wie er um die Ecke pfeilt, wie sein Wasser
diese hier erzwungene Biegung vollzieht. Sehr schwungvoll. Mit
Lebensfreude vergleichbar. Und doch auch sich ins Unabänderliche fügend.
Der Halt, den der pyramidenähnliche Berg bis hieher geben konnte, ist
plötzlich verschwunden, ins Nichts aufgelöst. Doch nach dem Ausflippen
in die Kurve kommt der Fluss zum Berg zurück, schmiegt sich erneut an
ihn, jetzt einfach an einer anderen Seite.
Eine Geschichte von Jahrmillionen, stelle ich mir vor. Was sich
hier alles vollzogen hat und was Menschen dazu beigetragen haben, dass
wir die Rhône heute so sehen können, wie eben beschrieben, das weiss ich
nicht.
Ich hatte mich schon gewundert, dass wir nirgends einen Hinweis auf
dieses Naturereignis entdeckt hatten. Doch zum Finale unseres Besuches
wurde er uns noch vorgesetzt. Am hölzernen Elektromast fanden sich zwei
gelbe Wanderwegtafeln, je nach links und rechts weisend, um das ganze
Umfeld einzubeziehen. Dazu die Angabe Coude du Rhône 460 M. Und
da befanden wir uns erstmals im Herzen oder in der Mitte des Rhôneknies.
Als ich die Tafel mit der Ortsbezeichnung fotografiert hatte, gab der
Fotoapparat den Geist auf. Für alle hatte sich etwas vollendet.
Das Rhôneknie befindet sich in jenem Teil des Kantons Wallis, in dem französisch gesprochen wird. Dort reden sie vom coude (Ellbogen) und wir in der Deutschschweiz vom Knie der Rhône.
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