Wir standen in der Schlange am SBB-Schalter in Zürich-Altstetten. 5
Personen. Anstatt einen 2. Schalter zu öffnen, kam eine Mitarbeiterin
zu uns Wartenden hin und befragte jede Person nach ihren Wünschen. Die
vor mir stehenden Männer und Frauen brauchten eine persönliche Beratung.
Ich wurde gebeten, zu den Automaten ins Freie mitzukommen. Ich
benötigte ZVV-Mehrfahrtenkarten, ebenso solche für den 9-Uhr-Pass.
Diese könnten auch am Automaten bezogen werden, erfuhr ich. Das
wusste ich noch nicht. Die versierte SBB-Mitarbeiterin tippte meine
Wünsche schnell in die Tasten, doch der Kasten akzeptierte meine
Postcard nicht. Wir wechselten an einen anderen Apparat, und dort waren
die Fahrkarten dann erhältlich. Die SBB-Mitarbeiterin hatte mir zwar
jeden Schritt erklärt, damit ich mir die Abfolge einprägen könne, doch
mir ging das alles viel zu schnell.
Ich empfand es in diesem Augenblick als eine Zumutung, dass man
auch Kunden im Pensionsalter keine Billette mehr am Schalter verkaufen
will. Das sprach ich auch aus. Vor dem Reiseantritt wolle ich keine
Aufregungen mit Automaten. Sie hätte jetzt selber erlebt, dass die erste
Variante nicht funktioniert habe, fügte ich bei.
Sie regte an, hier immer wieder zu üben. Dieser grundsätzlich
richtige Rat überzeugte mich aber nicht. Hier ist so viel Leben. Die
Automaten sind meistens besetzt. Wie kann ich da gemütlich üben? Die
Unruhe um mich herum würde mich sofort bedrängen. Als ich diese
Situation schilderte, meinte sie lakonisch: „Kommen sie doch am Sonntagmorgen, wenn die jungen Leute ausschlafen. Dann ist es hier ruhig.“
Dieses Gespräch fand im April 2011 statt. Seither habe ich da und dort
von dieser Erfahrung erzählt, und immer hiess es eindringlich:
Beschreibe das! Du musst das machen. Und dieser Rat für den
Sonntagmorgen, hiess es übereinstimmend, er sei ungehörig.
Auch mich oder uns stört es, dass wir unsere Billetteinkäufe nicht
mehr am Schalter tätigen sollen. Wir sind doch oft auf zusätzliche
Informationen über eine Reiseroute, nicht nur auf eine Fahrkarte,
angewiesen. Es fällt uns schwer, auf die vielen kleinen Dienste am
Schalter zu verzichten. Es fehlt in meiner Generation der spielerische
Umgang mit Automaten. Für uns sind manche Begriffe und Abfolgen fremd.
Und Menschen mit Sehschwächen haben es ganz besonders schwer. Da können
sich unerwartet Probleme einstellen, die nur ein Mitmensch lösen kann.
2 Monate später stand ich wieder in der Kolonne. Diesmal brauchte
ich ein Billett ins Wallis. SBB und Postauto. Wieder das Szenario, dass
eine SBB-Frau einzelne Personen aus der Schlange zu den Automaten
herausholen wollte. Zuvorderst eine Italienerin, die nur vage Deutsch
verstand und mit Gesten ausdrückte, hier am Schalter wolle sie bedient
werden. Die 2. Frau wollte ein Abonnement mit Foto bestellen. Ihr wurde
der Schalterbereich sofort zugestanden. Und dann wurde ich befragt. Ich
wünsche ebenfalls Schalterbedienung. Man wolle mir am Automaten
behilflich sein, hiess es. Ich wünsche Bedienung am Schalter. Die
SBB-Frau war sichtlich enttäuscht. „Sagen sie es doch ihrem Chef, dass wir eine persönliche Bedienung wünschen.“ Auf diese Bitte reagierte sie dann hilflos: „Das nützt nichts.“
Die Frau in der Schlange vor mir kehrte sich um und stimmte mir zu,
unterstützte mich. Sie sagte: „Man will offensichtlich Stellen
abbauen.“ Und ich folgerte: Wie traurig, da müssen Angestellte ihr
eigenes berufliches Grab schaufeln.
Als mein Mann und ich in Visp ein Billett nach Saint-Maurice kaufen
wollten, sprach uns ein SBB-Mitarbeiter in orangefarbener Veste am
Eingang in den Schalterbereich an. „Kann ich ihnen behilflich sein?" ‒ "Wir wollen ein Billett lösen.“ ‒ „Kommen sie mit!“
Wir gingen zusammen ins Freie an den Automaten, und der Helfer tippte
unseren Wunsch ein. Er vergewisserte sich, ob wir nicht vielleicht nach
St. Moritz reisen wollten und gestand freimütig, er wisse nicht einmal
genau, wie Saint-Maurice geschrieben werde. Da half ihm dann der
Computer mit dem Angebot an Varianten. Wir konnten den Ablauf gut
verfolgen. Der Mann strahlte Ruhe aus. Er wollte uns auch nicht
belehren. Er wollte uns offensichtlich nur zu einem Billett verhelfen.
Für meine Reise nach St. Gallen versuchte ich, ein Billett am
Schalter im Zürcher Hauptbahnhof zu erhalten. Kein Problem. Nachdem ich
bezahlt hatte, dankte ich, dass ich bedient worden sei. Warum? Mein Dank
irritierte. Weil man jetzt offenbar schweizweit möglichst an die
Automaten verwiesen werde. Aha! Und dann: „Also, wenn sie hieher kommen,
bekommen sie ihr Billett.“
Neu ist im Hauptbahnhof die schlangenförmige Abschrankung vor den
Schaltern. Wir müssen uns nicht mehr für eine einzelne Schlange
entscheiden. Nur noch anstehen und zuvorderst dann überblicken, welcher
Schalter soeben frei geworden ist. Einladend wirkt die Leuchtschrift
über den offenen Schaltern: WILLKOMMEN WELCOME.
Ich beobachtete, dass der Willkommensgruss ausgeschaltet wird, wenn
der letzte Kunde, der bedient werden soll, eingetroffen ist. Ich
beobachtete einen Mann, der etwas aufmüpfig und seiner Übersicht sicher
rief: „Immer etwas Neues lernen!“ und dann vor einem Schalter
eintraf, der kurz zuvor geschlossen worden war. Da stand er dann vor der
Tafel „Schalter geschlossen“. Wichtig ist also das leuchtende Wort WILLKOMMEN. Es bedeutet: Schalter geöffnet.
In Saint-Maurice gelang es uns, am Automaten Zusatzbillette
Visp‒Brig zu lösen. Bedingung für Deutschschweizer: Französisch
verstehen. Hilfreich war die Ruhe an diesem Ort. Es warteten keine
nervösen Menschen hinter uns. Ein gutes Erlebnis, auf dem wir aufbauen
können.
Nach den beschriebenen Erlebnissen wirkte der Beitrag „Nie mehr an ein Bahnticket denken“ auf mich wie ein Magnet. Im Tages-Anzeiger
vom Samstag, 02.07.2011 wurde informiert, dass ein elektronisches
Ticket in den öffentlichen Verkehrsmitteln der Schweiz die heutigen
Billette und Abonnemente ablösen soll. Universell verwendbar, hiess es
und über Funk kontrollierbar.
Erste Schritte sind nach diesem Bericht 2014 zu erwarten.
Nach meinen erwähnten Erfahrungen kann ich mich über eine solche
Revolution freuen. Mich beschäftigt jetzt nur eine Frage: Wie bekommt es
unserem Nervensystem, wenn die Chipkarte in unseren Jacken- oder
Hosentaschen täglich beim Ein- und Aussteigen vom Funk aus der Ruhe
geweckt wird?
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