Die Sicht war nicht beeinträchtigt, obwohl das Auge violettrot
blutunterlaufen war. Deshalb vielleicht habe ich keine Brille aufgesetzt
und bin auch Tram, S-Bahn und Bus gefahren. Das Verbot, bis zur Heilung
nicht Velo zu fahren, das halte ich ein.
Es schauten mich viele Leute kritisch an. Die meisten stellten
freimütig Fragen, wollten wissen, was geschehen sei. Eine Frau wechselte
sogar die Strassenseite, um mich genauer zu betrachten, als sie mich
daherkommen sah. Wir leben im selben Umfeld, grüssten uns bisher nur.
Das geplatzte Blutäderchen hat uns nun zu einem richtigen Kontakt
zusammengeführt.
Ich erzählte der Augenärztin, wie mitfühlend ich überall behandelt
werde und erfuhr, dass mein Fall zwar erschrecke, aber heilbar sei. Ich
befände mich auf der besseren Seite. Die wirklich gravierenden
Augenleiden sähe man nicht und beurteile sie deshalb falsch. Da könne
eine Person das Gegenüber nur noch schemenhaft erfassen und grüsse
deshalb nicht mehr. Und schon werde ihr das falsch und als Beleidigung
ausgelegt.
Es gab auch Leute, mit denen ich verabredet war und die, als sie
mich grüssten, nicht bemerkten, dass sie von 2 ganz verschiedenen Augen
angeschaut worden sind. Erst eine Weile später und mit etwas Distanz zu
mir, riefen beide: Ui-ui! Was ist denn da passiert?
In der S-Bahn im Hauptverkehr am Abend zwischen 17 und 18 Uhr
störte es eine Frau, dass ihre papierene Tragtasche, die am Boden stand,
von einer vorbeigehenden Person gestreift worden war. Vielleicht war da
etwas Zerbrechliches drin. Empört schaute sie zu mir auf, wollte
vielleicht meine Zustimmung und erschreckte gleich nochmals. Dieses
Auge! Entsetzt wandte sie sich ab. Auf der weiteren Fahrt ignorierte sie
mich konsequent. Wäre nicht das Gedränge im Zug gewesen, ich hätte sie
angesprochen. Doch das war hier unpassend.
Ich beobachtete auch, wie Männer mein blutendes Auge betrachteten.
Wie ein Arzt, wie um eine Diagnose zu stellen. Sehr aufmerksam, sehr
kritisch. Ohne Scheu. Schauen und wegschauen, immer wieder. Es kam mir
vor, als ob sie mein Auge fotografieren oder einscannen wollten. Im
gegenüberliegenden Coupé der S-Bahn sitzend, war das gut möglich. Von
ihnen kam keine Reaktion. Für sie war es vielleicht ein Rätsel, was
meinem Auge fehle, und dem wollten sie nachgehen. Ebenso verhielt sich
der Stift (Lehrling) vom Format eines Familienoberhauptes, der im
Lebensmittelgeschäft an der Kasse sitzt. Fast unanständig lange schaute
er mein Auge an und ich war danach stolz, dass ich diesen unverfrorenen
Blick ausgehalten habe.
Ebenfalls an der Kasse des gleichen Ladens, aber an einem anderen
Tag, wusste die junge und quirlige Südländerin sofort, was mir geschehen
war. Sie nannte gleich ein Medikament, das ihr schon mehrmals geholfen
habe, diese Blutaustritte zu stoppen. Es sei ein natürliches Produkt,
ohne Rezept erhältlich, pries sie es an.
Im Bahnhof Zürich-Altstetten wollte ich ein Billett kaufen. Noch
bevor ich meinen Wunsch aussprechen konnte, sah ich, wie mein Auge die
Frau am Schalter elektrisierte. Bevor sie meine Bestellung hören wollte,
musste ich erzählen, was mir geschehen sei. Dann berichtete sie, dass
sie vor Jahren eine schwere Augenverletzung erlitten habe. 2 Mal sei das
Auge operiert worden. Eine furchtbare Leidenszeit. Die ganze Geschichte
sei sofort hochgekommen, als sie mich gesehen habe. Sie hätte gedacht:
Oh die arme Frau, jetzt muss sie das alles, was ich erlebt habe, auch
erleiden.
Alle diese Fragen und die Aufmerksamkeit um mein verfärbtes Auge
haben mir bewiesen, dass in unserer Stadt viele einfühlsame und
hilfsbereite Menschen unterwegs sind. Es war nicht eine billige
Neugierde. Manche fragten nach meinem Befund, um herauszufinden, was
geschehen sei, wie man mir helfen könne.
Ihnen danke ich allen. Solche Erfahrung ist neu für mich.
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