Der Rundgang im Kunstmuseum Aarau beflügelte uns. Wir folgten der Ausstellung HEUTE IST MORGEN mit Werken von Sophie Taeuber-Arp.
Ihre Talente sind in mehr als 300 Exponaten zu bewundern. Die Arbeiten
der 1889 geborenen Künstlerin strahlen als Offenbarungen ganz besonders
in unsere Gegenwart aus.
Auf dem Rundgang dieser Ausstellung ist mir wieder einmal
aufgegangen, wie lange ein Werk reifen muss, bis es verstanden wird und
wegweisend sein darf. Vergleichbar mit dem Wachstum von Pflanzen und
Bäumen.
1989, im Zusammenhang mit einer Ausstellung in Bern, schrieb Alice Baumann noch in der Annabelle zum Schaffen von Sophie Taeuber-Arp: Trotz ihrer grossen Kreativität wird sie zu Lebzeiten nie richtig bekannt.
Ihr Unfalltod von 1943 verhinderte es.
Zu ihren Werken wurde aber Sorge getragen. Nur darum ist es
möglich, dass sie jetzt ausstrahlen und uns begeistern können. Es
scheint, dass sich kein Objekt über den zugewiesenen Ausstellungsort
beklagt. Das Kunsthaus hat ihnen grosszügig Plätze zugewiesen. Und der
Künstlerin erweist es Bewunderung und Respekt.
Die umfassende Ausstellung zeigt die Vielfalt ihres künstlerischen
Schaffens. In ihren Werken geht es um Form, Farbe, Material, Design,
Malerei, Zeichnung, Plastik, auch Architektur und ganz besonders um
textile Kreationen. Gewobenes, Gesticktes und Perlenkrallen-Arbeiten.
Ihre Werke sind subtil, dem kleinsten Detail liebevoll verpflichtet. Ich
fühlte in allem etwas Lebendiges, wie es nur das Handwerkliche in sich
tragen kann.
Sophie Taeuber-Arp war anfänglich Lehrerin an der Zürcher
Kunstgewerbeschule und hat im Geheimen als Tänzerin und Gestalterin an
der Da-Da-Bewegung teilgenommen. Ihre Arbeiten sind deshalb in
erster Linie didaktische Lehrgänge, die bis heute prägend wirken, aber
erst jetzt als Kunst verstanden werden.
Als wir uns aus dem Kunsthaus verabschiedeten – wir hatten uns noch
im Museumscafé gestärkt und uns dort mit Gästen aus Basel unterhalten
–, dachten wir ans Heimfahren.
Draussen empfing uns ungemütliches Wetter. Der Kontrast zur
Ausstellung hätte nicht grösser sein können. Der Himmel schwarz. Regen.
Doch plötzlich hatte sich die Sonne auch noch ins Bild gesetzt und in
mir den Wunsch geweckt, den dazugehörigen Regenbogen zu suchen. Er
zeigte sich aber nicht. Dort, wo er hätte auftreten müssen, regnete es
vielleicht nicht mehr. Oder er versteckte sich hinter den Häusern, vor
denen wir ausschauten und warteten. Wir gingen weiter Richtung Obertor.
Und schon regnete es wieder in Strömen. Unter dem Vordach eines
Geschäftshauses blieben wir stehen. Und warteten. Und hörten auf einmal Carillonklänge.
Das Glockenspiel ertönte aus dem Turm, dem wir gegenüberstanden. Dem
Obertorturm. Eine Überraschung. Es erreichten uns bezaubernde Melodien,
passend zu all den Werken, die wir vorher bewundert hatten.
Als das Spiel verstummte und wir noch eine Weile auf eine
Fortsetzung gewartet hatten, gingen wir weg. Und kamen gleich wieder
zurück. Wir hörten, dass erneut gespielt wurde. Und nach einer weiteren
Pause verhielten wir uns nochmals unwissend, gingen weg und kamen
wieder. Es waren wenig Leute unterwegs, und wir meinten, wir seien
überhaupt die einzigen, die diese feinen Klänge auffingen.
Primo hatte in der Zwischenzeit entdeckt, dass im Turm eine
Lampe brannte. Er folgerte, dass uns diese dann ankündige, wenn das
Konzert zu Ende sei. Noch bevor es im Turm dunkel geworden war, kamen
zwei Frauen an uns vorbei. Sie sassen schon länger mit aufgespannten
Schirmen auf der Bank an der Bushaltestelle. Wir hatten sie nicht weiter
beachtetet. Jetzt aber sprach uns eine der beiden an und informierte,
das Konzert sei beendet. Sofort hörte ich aus ihrem Sprachklang heraus,
dass wir uns kennen müssen. Wir nannten unsere Namen. Grosses Erstaunen
und Freude. Die damalige Begegnung in unserer Schreinerei-Werkstatt
liegt mindestens 20 Jahre zurück.
In der Zwischenzeit hatte der Glöckner vom Obertorturm die Lampe
gelöscht, ohne dass wir Zeit gehabt hätten, darauf zu achten. Er kam
unerwartet auf uns zu. Und es stellte sich heraus, dass er der Partner
jener Frau geworden ist, die uns angesprochen hatte. Sie war ebenfalls
für das Konzert hierher gekommen. An ihrer Seite eine Frau, die vor
kurzem im Spitalbett auf das Carillonspiel aufmerksam wurde. Und mehr
darüber wissen wollte. Der Wunsch wurde ihr erfüllt. Darum sassen die
Frauen auf der Bank nebenan.
Auch mein Wunsch wurde postwendend erfüllt. Hubert Schäpper, Glöckner von Aarau, sandte mir einen Beitrag aus der Zeitschrift 1A!Aargau, der sein Amt als städtischer Glockenspieler beschreibt.
Ihm kann ich Wissenswertes entnehmen und mitteilen: Hubert
Schäpper, Lehrer und Musiker, übt das Amt des städtischen Carilloneurs
seit 40 Jahren aus, sei wahrscheinlich der dienstälteste Glockenspieler
der Schweiz. Offensichtlich mit Leib und Seele mit dieser Aufgabe
verbunden. Die Melodien spiele er auswendig, und die 187 Treppenstufen
sei er schon über tausendmal hochgestiegen.
Dass wir ihn spielen hörten, verdanken wir dem Eidgenössischen
Bettag, der an jenem Sonntag gefeiert wurde. Sein Spiel erklingt immer
dann, wenn Aarau besonders festlich oder besinnlich ausstrahlen soll. An
städtischen und kirchlichen Feiertagen.
Über den Oberturm lese ich, dass dieser bis ins 19. Jahrhundert als
Wach- und Verliessturm benützt worden sei. Viele Verbrecher wurden hier
eingesperrt. Zuständig für das Wohl der Gefangenen war der Turmwärter,
der mit seiner Familie oben im Turm in einer kleinen Wohnung gelebt
habe.
Während wir den Carillonklängen lauschten, entdeckte ich an der
Südfront des Turms die Darstellung des Totentanzes. Eine markante Arbeit
des Künstlers Felix Hoffmann. Gut erhalten, gut verständlich. Uns mahnend, dass Leben und Tod nicht voneinander zu trennen sind.
Abschliessend danke ich Freund Zufall wieder einmal öffentlich für
ein Geschenk. Für seine Zugabe. Je länger je mehr begreife ich, dass er
uns nur erreichen kann, wenn wir nicht ständig von fixen Programmen und
Terminen bestimmt sind.
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