Über die Grösse des Wochenmarktes in Desenzano (Italien, am
Gardasee) staunten wir. Wir schlenderten 1 ½ Stunden den Auslagen
entlang, ohne das Ende des Markts zu erreichen. 2 Arten von Souvenirs
habe ich mitgenommen. Ab einem Wühltisch eine Strickjacke und eine
Bluse. Gesamtpreis: 5 Euro. Da war mehr Spass dabei als vernünftiger
Einkauf. Und doch sind es Stücke, die ich tragen werde.
Das andere, mich weit mehr beeindruckende Souvenir ist eine Foto
von einem Denkmal, das an den Krieg erinnert. An der Seepromenade, auf
der Achse der Kirche platziert. 2 Frauen umarmen sich. Mitfühlend sind
ihre Gebärden. Ihnen gegenüber 2 Männer mit einem starren Gürtel
aneinander gekettet, unfrei, den militärischen Befehlen ausgeliefert und
darin gefangen. Beide Paare stehen auf einer Art Schaukel, die im
Kunstwerk aber fix dasteht. Als ich es sah, dachte ich: Wie Frauen auf
den Krieg reagieren und wie Männer reagieren müssen.
Ich suchte nach weiteren Angaben zu diesem Denkmal, konnte sie nicht finden. Ich stiess aber im Internet auf den Ort Solferino, wo vor 155 Jahren jene erbitterte Schlacht stattfand, die den Schweizer Henri Dunant bewegte, das Rote Kreuz (heute zum Internationalen Rot-Kreuz-Hilfswerk geworden) zu erschaffen. Ohne es zu wissen, waren wir diesem geschichtsträchtigen Ort im Umfeld von Peschiera sehr nahe gekommen. Solche nicht gesuchte Informationen zu finden, das sind Geschenke.
Nach dem Marktbesuch wurden wir nach Bergamo geführt. Ein
Freund hatte uns schon in Zürich einen dicken Reiseführer ausgeliehen,
damit wir uns auf die darin aufgelistete Geschichte dieses Orts
vorbereiten konnten. Ganz speziell wies er auf das in der Basilika Santa Maria Maggiore anzutreffende Intarsienwerk von Lorenzo Lotto hin.
Bergamo steht erhöht über dem Tal. Die Altstadt wird mit der
Drahtseilbahn erreicht. Als wir dort ankamen und durch die engen Gassen
schlenderten, sagte Primo plötzlich: Fühlst du dich hier auch sehr klein? ‒ Ja, bei so hohen Gebäudemauern. Da gingen wir gerade am Musikinstitut und dem Donizetti-Museum vorbei. Der Komponist Gaetano Donizetti wurde 1797 hier geboren.
Auch in dieser Stadt stoppte uns wieder die Mittagssiesta. Museen
und Kirchen waren bereits geschlossen. Sofortigen Zugang fanden wir aber
in der Curia. Und dort überraschte uns der Versammlungsraum, die Aula Picta.
Ihre Schönheit verdankt sie der schwungvollen Bogenstütze, die das
hölzerne Dach trägt. Und die Fresken aus dem 13. Jahrhundert füllen den
Ort mit Geschichten. Mich hat ein Seelen wägender Engel besonders
angesprochen.
Dieser Raum muss vor nicht langer Zeit achtsam renoviert worden
sein. Es ist eine Frische zu verspüren, wie man sie selten findet.
Bis die Pforte der Basilika Santa Maria Maggiore wieder
geöffnet wurde, schlenderten wir durch die Gassen, ohne wie andere
Mitreisende auf der Piazza Kaffee zu trinken. Wir wollten auch die
Aussicht aus Bergamo in die weite Landschaft erleben. Obwohl dieser Ort
für uns den Eindruck erweckte, er sei eine einzige, nicht verletzbare
Festung, zeigt ihre Geschichte auch schicksalshafte Züge. Bei unserem
Besuch aber fühlten wir uns an einem sicheren Ort. In einer Welt zu
Besuch, die ihre Kultur, ihre Schätze und Traditionen mit berechtigtem
Stolz hütet. Das architektonische Zusammenspiel von Baudenkmälern, die
Plätze schafften, überraschte uns.
14 Uhr. Wir durften in die Basilika eintreten und Lorenzo Lottos
Intarsien finden. Sie zieren das Chorgestühl. Zu diesem ist der Zutritt
aber verboten. Für Kunstinteressierte werden einige plakatgrosse
fotografische Reproduktionen gezeigt.
Diese handwerklichen Arbeiten sind so vollendet geschaffen, dass
sie Jahrhunderte überdauerten. Sie müssen auch entsprechend gepflegt
worden sein, so dass sie heute noch intakt sind.
Lorenzo Lotto malte die Entwürfe. Ein genialer Möbelschreiner
setzte sie in Bilder aus Holz um. Aussergewöhnlich ist, dass sie nicht
nur eine Szene darstellen. Lotto versammelte verschiedene Kapitel einer
Geschichte in einem einzigen Bild.
Dieser Bilderzyklus entstand 1471‒1500 in der Zeit, als die
Reformation auch Venedig erfasste und sich dort Menschen aller sozialen
Schichten darum bemühten, den direkten Zugang zur Bibel zu finden. Zur
selben Zeit, als in Zürich religiöse Bilder vernichtet wurden, wurde
Lotto beauftragt, Bildvorlagen für die biblische Geschichte im neuen
Verständnis der Reformation darzustellen, weil die breite Bevölkerung
Analphabeten waren.
Verschiedenfarbige Hölzer lieferten das Material für die
Bildgestaltung. Der ausführende Möbelschreiner muss aber auch
Chemikalien benützt haben, um sie um Nuancen zu verändern. Er wird mit
Salzsäure, Kupfervitriol, Arsen experimentiert haben. Er musste auch
Leime herstellen. Die sich entwickelnden giftigen Dämpfe griffen seine
Gesundheit an. Er sei kurze Zeit nach Vollendung seines Werkes an einer
Vergiftung gestorben.
Nach diesem Besuch schlenderten wir nochmals durch die Gassen und
entdeckten eine alte, vornehme Bäckerei-Konditorei. Wir konnten nicht
widerstehen, kauften Gebäcke, damit wir den Laden von innen sehen
konnten. Sehr gepflegt. Und die Frau an der Kasse, vielleicht die
Ladenbesitzerin, lobte mich, dass ich den Preis in Münzen richtig
gezählt hatte. Bene! rief sie freundlich, molto bene! (Gut, sehr gut.)
Im Rucksack lagen bereits ein paar Schätze. Eine Colomba artiginale für unser Osterfest in Zürich, ebenso die Schrift Bilder der Bibel von Lorenzo Lotto aus dem Verlag Ferrri Editrice und auch ein beachtlicher Stadtführer zur Geschichte und Kunst in Bergamo. Die Aula Picta ist darin abgebildet. Ihretwegen haben wir das Buch gekauft.
Die Heimreise nach Zürich verlief zügig. Mit vorgeschriebenen
Zwischenhalten und Stärkung. Bessere Bedingungen konnten wir uns nicht
vorstellen. Frühlingshaftes Wetter, wenig Strassenverkehr, zufriedene
Stimmung unter den Reisenden. Und eine beeindruckende Fahrt über den
San-Bernardino-Pass.
Beim Abschied in St. Gallen dankte ich dem Chauffeur für seine
einmalig sichere Fahrweise. Er verwies auf 2 Jahre Postautodienst im
alpinen Bereich. Da lerne man subtil chauffieren.
Ich komme nochmals auf das Motiv unserer Reise zurück, habe es im Blog mit dem Thema Reisefüdli erwähnt. Ich wollte nach Peschiera kommen, möglichst nahe an diesen Ort, wo Rico, die Hauptperson aus der Geschichte Heimatlos,
seinen Geburtsort wiederfand. An jenem Reisetag, als wir den Gardasee
umrundeten, kamen wir auf der Heimfahrt – für mich – unerwartet durch
Peschiera. Der Bus überquerte gerade den Fluss Minico, als uns
der Chauffeur über den Ort informierte. Grosse Überraschung! Für einen
Augenblick schien die Sonne strahlender. Ich war in Johanna Spyris Geschichte angekommen, sah den Hafen, den Ausfluss und dahinter den See.
Das 2. Thema unserer Reise: Den Lebensraum von Primos Urgrosseltern kennen lernen. Sie stammen aus der Provinz Trentino. Sie haben eine besondere Geschichte, die dokumentiert ist.
Der Urgrossvater sei schon als Bub mehrmals in der Schweiz gewesen.
Er habe seinen Vater, einen Holzfäller, begleitet. Später sei der
Jüngling in die Schweiz gekommen, um beim Bau des Gotthardtunnels
mitzuarbeiten. Baubeginn 1872.
Wieder später, so die Legende, die mir eine seiner Enkelinnen
erzählte, habe dieser Junge mit seinem Vater einen Bilderhandel
aufgezogen. Die beiden wanderten als Hausierer Richtung Schweiz und
boten überall Kunstdrucke an. Ihr Ziel war, später dorthin auszuwandern,
wo sie die Bilder am teuersten verkaufen konnten. Diesen Ort fanden sie
in Landquart (Kanton Graubünden, Schweiz). Da bauten sie ihr
Geschäft auf. Eine Art Warenhaus. Bei ihm deckten sich die Hausierer mit
geeigneten Waren ein. Landquart war ein guter Ausgangsort für sie. Der
Ort gilt als Tor zu 150 Alpentälern.

Seine Frau suchte er noch im Südtirol, ebenso heuerte er später Mitarbeitende für seinen Betrieb aus dem Trentino an. Im Buch Streifzug in Wort und Bild durch die Geschichte von Igis-Landquart, herausgegeben 1996 von Reto Hartmann, CH-7206 Igis, ist er abgebildet. Es wird von ihm berichtet: Michaele Manega (1853-1929)
kam im Schulbubenalter als Hausierer nach Landquart; er baute als
erster Kaufmann am Ort seine Geschäftshäuser am Marktplatz. Seine Gattin
gebar ihm 16 Kinder.
Unsere Reise hat uns über die immensen Strecken, die von den
Vorfahren begangen worden sind, aufgeklärt. Ob sie immer nur zu Fuss,
mit einem Pferd und Wagen oder ein Stück weit in der Postkutsche
reisten? Wir wissen es nicht. Es müssen mühsame Wege gewesen sein,
vielfach über die Berge. In Johanna Spyris Geschichte ist eine solche
Reise mitzuerleben.