In der Rückschau empfinde ich die seriösen Vorbereitungen für Primos Katarakt-Operation wie ein wichtiges Ritual. Wir konnten uns langsam vorbereiten und mit der Augenklinik vertraut machen.
Auf Anraten unserer Augenärztin ging ich zur Voruntersuchung mit.
Auch ich durfte Fragen äussern. Dann stellten wir uns noch für
Studierende eine Stunde lang zur Verfügung.
Sie mussten die Probleme in unseren Augen erfassen und eine
Diagnose erstellen. Spannend für uns beide, auch wenn uns das
Verständnis für die vielen Fachausdrücke fehlte. Diese jungen Leute
arbeiteten mit einfachen Instrumenten, gingen behutsam an die Aufgaben
heran. Und sie besprachen in ihrer Gruppe das, was sie entdeckt hatten.
Einer schwärmte von meinem rechten Auge, wie schön es sei. Es
interessierte mich, was er darin sehe, ob das Bild einer Landschaft
vergleichbar sei. Nein. Die Farbe und die Adern faszinierten ihn.
Ein anderer Schüler hielt die Sehtesttafel hoch. Primo musste die verschieden angeordneten "E"
benennen. Der Arzt, mit dem wir die Operation besprochen hatten,
schaute zu. Ich sah Fehlinterpretationen und schüttelte den Kopf. Nur
leicht, doch wurde es bemerkt. Der Arzt sagte: „Die Frau hat keine Freude, ich aber schon.“
Mir hatten nicht alle Antworten gefallen. Der Arzt aber sah in ihnen
seine Diagnose bestätigt, und das freute ihn. Und mir stärkte er mit
dem, was er sagte, das Vertrauen in seine Kompetenz.
Die Operation ist denn auch entsprechend gut verlaufen. Auf dem
Heimweg aus der Klinik erzählte mir Primo, wie sich alles abgespielt
hat. Er wünschte keine Vollnarkose, kam damit gut zurecht, war wach und
hat mir das, was er mitbekommen hat, schildern können. Entlastet und
beschwingt verliess er dieses Haus, in dem die eine alt und trüb
gewordene Linse durch ein künstliches Linsenimplantat ersetzt worden
war. Wie genau dieser Austausch vollzogen worden ist, bleibt unfassbar.
Da war er für nur 2 Minuten voll narkotisiert. Das Wesentliche also
konnte nicht mitverfolgt werden. Es bleibt ein Geheimnis, grenzt an ein
Wunder, weil wir nicht einmal eine Narbe sehen.
Ich fühlte seinen Schwung und seine Freude, als er die Klinik verlassen
hatte, und verstand den Wunsch, nicht sofort in ein Tram einzusteigen.
Er wollte über die Polyterrasse in die Stadt hinunter gehen. Das ist ein
schöner Ort mit Weitsicht über die Altstadt, zum See und Üetliberg hin,
auch Richtung Limmattal und bei schönem Wetter in die Alpen. Er hoffte,
dort noch Skulpturen zu sehen, hatte von solchen gelesen. Sie waren
aber bereits weggeräumt. Da musste ich dann schon augenzwinkernd fragen:
Wer braucht denn hier Begleitung? Wer holt wen ab? Von der Klinik wurde
nämlich ausdrücklich verlangt, dass der entlassene Patient abgeholt und
begleitet werden müsse.


Auch ich konnte meine Sicht erweitern. Das Gebiet des UniversitätsSpitals kannte ich bisher kaum. Ich entdeckte die alte, also ehemalige Eidgenössische Sternwarte
in Zürich. Ein schmucker Bau mit Kuppel, der mich sofort anzog.
Schrecklich aber die verschiedenen Bauten, die nach und nach an diesen
Zürichberg-Hang gebaut worden sind. Vor allem die Materialien empfinde
ich teilweise abstossend und lieblos. Wie ganz anders zeigt sich der
Nachbarort mit dem Kantonsspital und dem zugehörigen Park. Wir empfanden
diese hohen Spitalgebäude nicht nur darum wohltuend, weil Primos Vater
als Maurer an ihnen gearbeitet hat. Es sind harmonische Bauten. Wir
schauten die Backsteinmauern an und fragten uns, welche von seinen
Händen und seiner Kraft mitgestaltet worden sind.
Als die Aufrichte am 15. September 1949 gefeiert wurde, bekamen
alle Arbeiter, die an diesem Bau beteiligt waren, ein Fazenettli, ein
Stoffdruck mit der Darstellung des Gebäudekomplexes samt Park. Solche
Tücher, die den Stofftaschentüchern ähnlich sind, benutzten die
Bauarbeiter gerne, um den Schweiss abzuwischen. Jenes von Vater Lorenzetti ist brüchig geworden. Wir halten es gleichwohl in Ehren.
Primo erinnerte sich noch, dass ein solches Fazenettli in einem
Bildrahmen im Erdgeschoss des Kantonsspitals aufgehängt war. Wir suchten
nach ihm. Es ist verschwunden.
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