Die erste Geschichte:
Auf dem Früchte- und Gemüsemarkt in Zürich-Oerlikon habe ich nochmals Tarocco-Orangen gekauft. Der Händler sagte, das seien die letzten dieser Saison, bald nur noch eine Erinnerung.
Und dann, als ich eine schälte, kam mir Leo in den Sinn ‒
der Sizilianer, der mit 6 Arbeitskollegen wie wir damals in einem
Bernoulli-Reihenhaus lebte und uns einmal nach der Rückkehr aus den
Weihnachtsferien in seiner Heimat eine Prachtsorange brachte. Er läutete
an unserer Tür, grüsste, strahlte und erzählte von seiner Reise. 24
Stunden habe sie gedauert. Von Anfang an sei der Zug überfüllt gewesen.
Man habe die Sitzplätze mehrheitlich den Frauen überlassen. Und die
restlichen abwechselnd benützt. Er habe manche Stunde auf dem
gestapelten Gepäck etwas ruhen, aber nicht schlafen können. „Und jetzt koche ich Spaghetti!“ rief er noch, bevor er im Nachbarhaus verschwand.

Er brachte uns also die Orange, bevor er zu kochen begann. Noch
„sehe“ ich ihn und die Freude auf seinem Gesicht, als er uns grüsste und
ein gutes Neujahr wünschte. Auch wenn er jetzt wieder in der Fremde
angekommen war, hier war er nicht fremd, und das spürte er.
Leo zeigte mir einmal, wie sich die Männer eingerichtet hatten und
er nannte den Preis pro Schlafplatz, der ihnen vom Lohn abgezogen wurde.
In meinen Augen überrissen. Ein Wohnort im eigentlichen Sinn war es
nicht. 7 Matratzen. Eine Unterkunft, ja. Und ein Glück, dass Bernoulli
die Küchen geräumig entworfen hatte. Hier konnten diese Bauarbeiter am
Abend selber kochen und an einen gemeinsamen Tisch sitzen. Alle gehörten
zur selben Firma.
Leo verstand es, Körbe zu flechten. Im Frühjahr schnitt er am
Limmatufer geeignete Weidenruten. Er legte sie ins Wasser, wusste, wie
er sie behandeln musste. Und wir schauten dann zu, wenn er diese im
Garten zu Schalen oder Körben flocht. Handwerkliches Geschick und
Schönheitssinn waren ihm mitgegeben und dürften auch auf den Baustellen
geschätzt worden sein. Wo mag er heute sein?
Die zweite Geschichte, ebenfalls vom Früchte- und Gemüsemarkt:
Primo und ich beobachteten dort eine Hortleiterin mit 5
Kindern. Sie waren auf den Marktplatz gekommen, um Früchte und Gemüse zu
benennen. Jedes Kind hielt einen Zettel in Händen. Darauf war eine
Frucht oder ein Gemüse notiert. Diese(s) wurde(n) gesucht und dann
gekauft. Artig grüsste das entsprechende Kind die Frau oder den Mann am
Stand „Guten Morgen!“ Und las dann den Namen vom Zettel.
Radieschen. Ja, solche wollte der Bub kaufen. Die Hortnerin zeigte noch
auf das Preisschild und dass man dort den Namen lesen könne, wenn man
ihn vergessen habe. Ein anderes Kind wollte Erdbeeren kaufen. Die
Marktfahrerin hatte viel Geduld mit ihm. Es war schwierig für das
Mädchen, sich für eine der bereits abgepackten Portionen zu entscheiden.
Wir blieben eine Weile stehen und beobachteten diesen praktischen
Unterricht. Die Kinder, zum Teil aus fernen Ländern, waren sehr
aufmerksam und interessiert. Ein Knabe hielt uns seine Papiertasche hin,
damit wir sehen konnten, was er gekauft hatte.
Später sahen wir noch eine weitere Führung: Um eine andere
Hortnerin geschart, kleinere Kinder, die noch nicht lesen konnten. Aber
auch ihnen wurden Früchte gezeigt und diese benannt. Und wieder etwas
später trafen wir auf 3 afrikanische Frauen, denen die Produkte in den
Auslagen von einer schweizerischen Begleiterin erklärt wurden.
Der Markt zeigte sich an diesem Morgen als Freilichtschule. Auch
für uns. Wir kamen mit jenem Marktfahrer ins Gespräch, der seinen Cicorino verde
zu einem Rosenbett zusammengefügt hatte. Es sei ihm ein Anliegen, diese
grünen Rosettenzichorien so zu präsentieren, wie sie gewachsen seien.
Aufrecht stehend, Rose an Rose, hatte er sie in ein hölzernes Kistchen
platziert und mit diesem ein schönes Bild geschaffen. Den Blättern
schien es zu gefallen. Er zeigte uns, wie sie sich aneinander
anschmiegten und aufrollten. Das ungehobelte Holz des Kistchen schenkte
den schlichten Rahmen dazu.
Vielleicht, weil dieser Mann sah, dass wir seine Feinfühligkeit
erkannten, wetterte er über alle Händler, die solche Schönheit nur auf
einen Haufen werfen. Etwas Gewachsenes muss man doch auch bewundern,
nicht nur essen wollen, schien er zu sagen. Er freute sich, dass wir
gleicher Meinung waren.
Eine weitere Spezialität an seinem Stand: Einige wenige Eier von
Gänsen, Enten und Zwerghühnern. Mit sanft farbigen Schalen, schöner als
sie Osterhasen färben können. Da langten wir zu.
Zudem trugen wir Blumensetzlinge heim. Sie läuteten noch am selben
Nachmittag unseren persönlichen Balkon-Frühling ein. Es war ein Tag wie
aus dem Bilderbuch. Heute aber regnet es. Und die Temperatur ist
gefallen. Wie froh bin ich, dass die Gärtnerin, die mir Setzlinge
verkaufte, noch darauf hingewiesen hat, dass diese robust und
unverdorben seien.