Unsere Gäste aus Paris sind heimgereist. Die Wohnung ist wieder in
ihren Urzustand zurückgeführt. Die Bettwäsche ist gewaschen. Der
Bettüberwurf aus Manchesterstoff liegt da wie immer. Es ist ihm nicht
mehr anzusehen, dass er in jenes Gewitter hineingezogen worden ist, das
viele Orte überschwemmt hat.
Vorausgegangen war ein Tag voller Sommerschwüle. Am Abend
entschlossen wir uns, noch einen Spaziergang zu machen. Unsere Tochter Felicitas, die Enkelin Nora, Primo
und ich. Wie üblich nach Schlierenberg. Dort oben treffen wir
mehrheitlich auf angenehmere Temperaturen und erfrischenden Wind. So
auch diesmal.
Aber vorher hatten wir noch eine überraschende Begegnung. Seit ein
paar Monaten beobachten wir im Umfeld des Dunkelhölzlis ein ungefähr 30
Aren grosses neu eingerichtetes Gartenareal. Es ist die
Gemüse-Anbaugemeinschaft „Pflanzplatz Dunkelhölzli", die hier gemeinschaftlich unter fachkundiger Anleitung und nach biologischen Richtlinien gärtnert.
An dieser Stelle beginnt die letzte Steigung für Schlierenberg.
Hier tritt man aus den Wohnbaugebieten heraus. Für mich immer ein
befreiender Moment, wenn sich nur noch Felder und Waldrand präsentieren
und noch weiter oben dann die Sicht aufs Limmattal frei wird.
Diesmal blieb mein Blick an einer wunderschönen Frauenfigur hängen.
Als Vogelscheuche wachte sie über den neu angelegten Pflanzplatz.
Allgemein sind Vogelscheuchen simple Holzgestelle, bekleidet mit alten
Hemden oder Blusen und Hüten. Ihr Kleid aber war ein mit orientalischen
Ornamenten bestickter Mantel. Ihr langes, rotes Haar flatterte. Sie gab
den Eindruck einer lebenden Person.
Ich stellte mich neben sie, streckte die Arme auch seitlich aus.
Als Vogelscheuche Modell Nummer 2. Meine Familie konnte sich aber nicht
für mich begeistern. Die geheimnisvolle Schönheit neben mir war
einmalig. Wir bedauerten, dass wir keinen Fotoapparat bei uns hatten.
Wir gingen weiter. Keine 10 Minuten später überraschte uns ein
giftiger Wind. Hier oben ist es immer kälter als im Tal, aber an diesem
Abend war der Unterschied markant. Wir entschlossen uns, die Wanderung
sofort abzubrechen und schnurstracks heimzugehen. In kurzer Zeit hatte
der Himmel seine Farbe gewechselt. Er grollte und das schwere Grau
erschreckte uns. Dass es hier nichts mehr zu spassen gab, zeigte uns auf
dem Rückweg ein schwarzes, wirr zusammengedrücktes Stoffbündel am
Querbalken des Vogelscheuche-Skeletts. Der Wind hatte die Schönheit
umgebracht. Das, was von ihr übrig blieb, erinnerte vage an den Kadaver
eines grossen, schwarzen Vogels. Jetzt wirbelte der Wind viel Staub aus
den durchsonnten Kornfeldern über unseren Weg und auch in unsere Augen.
Dann eilte ich voraus, hatte Bedenken, die offenen Fenster unserer
Wohnung seien vielleicht zu wenig gesichert. Das traf dann nicht zu.
Tochter, Enkelin und Ehemann kamen hinterher, aber auch noch
rechtzeitig, ohne nass zu werden.
Den Durchzug hob ich auf, öffnete aber in jedem Zimmer das Hauptfenster, um die frische Luft einzulassen und schloss jede Tür.
Dann setzte der Regen ein. In der Ferne zuckten Blitze. Und es
donnerte. In unserem behaglichen Zuhause fühlten wir uns geschützt. Den
Wetterverlauf verfolgten wir nicht weiter. Wir waren rechtzeitig
heimgekehrt. Bald wurde es Zeit für Nora, schlafen zu gehen. Sie
wünschte sich aber noch eine Geschichte. In aller Seelenruhe setzten wir
uns in der Stube aufs Sofa und schauten zusammen ein altes Album an.
Und dann die Überraschung: Auf dem Gästebett lag ein See. Auf der
Wetterseite schoss der Regen horizontal durchs offene Fenster ins Zimmer
hinein. Das Bett in seiner Nähe bot sich als Auffangbecken an. Da Nora
hier gerne herumturnte, war die Bettdecke in der Mitte eingedrückt. Auf
sie liess sich das Wasser fallen. „Das ist ja der Seealpsee!“
rief ich, um meiner Unachtsamkeit etwas Humor hinterher zu schicken. Das
Wasser durchdrang den festen Manchesterstoff und auch die Federdecke.
Es dauerte 3 Tage – und diese waren sehr sonnig –, bis sich ihr Inhalt
erholt hatte und der üble, modernde Geruch verschwand.
Während dieser Zeit wunderte ich mich öfters, wie es die Natur
immer wieder versteht, uns ein Schnippchen zu schlagen und aufzuzeigen,
dass wir unfähig sind, für totale Ordnung und Sicherheit zu sorgen.
Die schöne Vogelscheuche wurde vom unvermittelten Sturm gebodigt. Bis heute ist sie nicht auferstanden.
Aber ich habe sie, sehr ähnlich, sehr verwandt, in einem
Bekleidungskatalog wieder gefunden. Die Ornamente des samtenen Mantels
sind hier schlichter, aber die Erscheinung der ganzen Persönlichkeit
erinnert stark an die Figur, die wir auf dem freien Feld bewundert
haben.
Zu finden im Katalog "hessnatur" auf Seite 133. Diese angesehene Firma, die Produkte aus natürlichen Materialien anbietet und dazu versichert: „Was
wir tun, tun wir vor dem Hintergrund höchster ökologischer und sozialer
Standards oder gar nicht. Darauf können Sie sich verlassen."
hessnatur kleidet selbstverständlich keine Vogelscheuchen
ein. Das ist das eine, was ich aus meinem Erlebnis herausfiltere. Das
andere ist das Gemeinsame mit den Gemüsebauern. Beide wollen Erzeugnisse
aus der Natur anbieten. Die gewachsene Schönheit und die Unversehrtheit
ihrer Produkte stehen im Mittelpunkt.
Hinweis
Das Textatelier.com hat weder verwandtschaftliche Verbindungen noch irgendewelche geschäftliche Beziehungen zur Firma hessnatur.
Grundsätzlich erfolgen alle Produkte- oder Firmennennungen nach freiem
Ermessen der Autoren, wenn sie im Interesse der Nutzer und der
Detailgenauigkeit sind.
Das Textatelier.com
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