Ab Winterthur wollte ich mit der S-Bahn
durchs Tösstal reisen. Die Wartezeit benützte ich, um einen ominösen
Stadtplan zu suchen, der mir vor Jahren bewusst gemacht hat, dass mir
Planlesen schwer fällt. Ich hatte einen Wettbewerb gewonnen und durfte
die Studios von RADIO TOP besichtigen.
Den Strassennamen hatte ich auf dem Plan auf
meinem Ankunftsperron rasch gefunden. Das Problem war nur, dass er sich
hinter Glas und die Stadt, die darauf eingezeichnet war, hinter meinem
Rücken befand. Es gelang mir nicht, ihn in der Vorstellung umzukippen.
Ich hätte ihn in die Hände nehmen, drehen und wenden wollen.
Beispielsweise so hinhalten, dass mir die Eisenbahnschienen die Basis
zur Übersicht gegeben hätten. Mit meinem angeborenen Spürsinn aber kam
ich dann doch rechtzeitig im Radio-Studio an.
Seither rufe ich „Winterthur“, wenn Planlesen schwierig ist. Und mit diesem liebenswürdigen Reizwort sind mir in der Familie Verständnis und Hilfe sicher.
Den Plan von damals gibt es nicht mehr. Das habe ich nun letzte Woche festgestellt.
Zurück zur Tösstal-S-Bahn. Ich fand dort ein
leeres Abteil und richtete mich behaglich ein. Ich wollte an diesem Tag
nach dem Winter im Zürcher Oberland Ausschau halten. Die weissen Wälder
sehen. Meinen Alltag allein lassen. Eine solche Reise nennt Primo Mutterleibserfahrung. Alle Kontrolle loslassen, fahren und schaukeln, geniessen.
Nebenan, auf den Plätzen rechts vom Gang,
hatte sich schon eine junge Mutter für eine längere Fahrt eingerichtet.
Als ich ankam, packte sie ein Kinderbuch aus ihrem Rucksack und begann
sogleich vorzulesen. Etwas später richtete sich eine wortkarge Frau
neben mir ein. Sie kümmerte sich hauptsächlich um ihren Hund, war
besorgt, dass dieser niemanden störe.
Nachdem uns die S-Bahn über die Strecke von 3 Stationen geführt hatte, stiegen 2 Buben zu. Artig fragten sie uns: „Ist hier noch frei?“
Der bisher stille Hund erwachte wie aus einem Schlaf, wedelte mit dem
Schwanz, schnupperte an den Hosenbeinen der beiden Primarschüler. Einer
erklärte der Frau, das Tier sei auf den Hund ihrer Grossmutter
aufmerksam geworden. Dieser schnuppere ebenso gern an ihnen herum. Das
könne der Hund riechen.
Die sofortige Freundschaft zwischen Hund und
Schülern war nicht zu übersehen. Es waren Kinder vom Land, mit Tieren
vertraut. Sie sprachen mit dem Hund wie zu einem Kollegen, und er
reagierte auf sie. Der ältere der beiden streichelte sein Fell. Mich
erinnerte dieses an die Persianermäntel von einst. Das Kraushaar wurde
bewundert. Nach einem Bad könnte man die Haare auf Lockenwickler
dressieren und eine Hundefrisur kreieren, schlug er vor. Jetzt
schmunzelte sogar die Hundebesitzerin. Und eine Weile später sagte er
sogar noch zu ihr: „Sie müssen damit rechnen, dass dieser Hund nicht
mehr lange lebt.“ ‒ „Ja, er ist sehr alt“, antwortete sie leise.
Kinder von heute. Unbefangen, liebenswürdig kontaktfreudig, sagen, was sie denken.
Dann wollte der Jüngere, vielleicht ein
Viertklässler, einen Witz erzählen: Ein Mann wurde gefragt, ob es
Geister gebe. Das wisse er nicht. Er sei nun schon 800 Jahre auf der
Welt und doch noch nie einem begegnet.
Es amüsierte den Erzähler, dass der alte Mann
nicht wusste, dass er selbst ein Geist sei. Zu mir gewendet, sagte er
dann: Wenn man einem solchen Geist das Schwert in die Brust stosse,
falle es hinten augenblicklich heraus. Ergänzend spielte er die Szene
vor und seine Phantasie liess ihn den Todesstoss, der keiner sein
konnte, mit verklärten Augen schauen.
Dann war die Fahrt der Buben zu Ende. Sie
verabschiedeten sich. Sie würden jetzt die Grossmutter besuchen. Die
Frau mit dem Hund hatte ihr Ziel ebenfalls erreicht. Jetzt sass ich
allein im 6er-Abteil.
Nebenan wurde immer noch aus dem Kinderbuch
vorgelesen. Der Bub im Kindergartenalter folgte nun schon eine halbe
Stunde lang der schriftdeutsch verfassten Geschichte, ohne sich zu
langweilen. Ich konnte sie nicht verstehen, aber aus dem Sprachklang
ableiten, dass sie sehr spannend sein musste. Es tönte wie aus einem
Hörspiel. Wenn der kleine Zuhörer eine Zwischenfrage stellte, sprach er
Mundart und verstand offenbar auch die Schriftsprache sehr gut.
In Bauma angekommen, liess ich mich wieder
einmal in die eigene Geschichte zurückfallen. Jedesmal werde ich beim
Anblick der alten Dampfbahn auf das grosse Turnfest von 1946 oder 1947
erinnert. Das fand in Bauma statt. Meine Klasse war dabei. Wir fuhren in
dieser grünen Bahn von Wald hierher. Es war aufregend schön. Noch immer
wird diese Bahn gehegt und gepflegt und zu Nostalgiefahrten ausgeführt.
Ich sah sie vor der Remise stehen.
In Gibswil verliessen mich auch die
Vorleserin und ihr Knirps. Draussen warteten schon die Grosseltern. Nur
ich – auch Grossmutter – wurde nirgends erwartet.
Rüti ZH, Endstation. Das wars also gewesen.
Als ich aufstand, schaute ich rückwärts. Es erstaunte mich, dass sehr
viele Leute in „meinem“ Wagen mitgereist sind. Da sich mein Sitzplatz
gleich hinter der Lokomotiv-Führerkabine befand, nahm ich nur diejenigen
Mitreisenden wahr, die in meinem direkten Umfeld sassen. Niemand musste
an uns vorbeigehen. Wir befanden uns quasi in der eigenen Stube. Und so
fühlte es sich auch an.
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