Primo hat im letzten Augenblick einen Ersatz-Werkstattplatz
gefunden. Es gab mir schon zu denken. Ausgerechnet das Umfeld, das ich
im Blog über die Fahrt nach Fluntern abwertend beschrieb, gehört nun zur
Umgebung der neuen Werkstatt. Zuerst dachte ich ans Sprichwort vom
Teufel, der auch Fliegen fresse, wenn er nichts Besseres finde. Dann
aber stellte es sich heraus, dass der neue Arbeitsplatz nicht von der
Hardbrücke erschüttert wird und dass uns die Pfingstweidstrasse nicht zu
nahe kommt.
Kurz bevor wir die Hoffnung auf eine Ersatz-Werkstatt wohl aufgegeben hätten, verstand Ueli Schenk
von der Schreinerei Schenk GmbH unser Anliegen und lud Primo ein, sich
einen Arbeitsplatz bei ihm einzurichten. Er arbeitet in den ehemaligen
Stallungen von Welti-Furrer, als dieser noch eine Fuhrhalterei
betrieb. So kommen wir jetzt wieder auf den Boden des Stadtkreises 5
zurück, auf dem wir aufgewachsen sind.
Noch diese Woche werden wir uns vom Atelier an der Müllerstrasse
verabschieden. Dann können die Bagger auffahren und das alte Haus mit
seiner über 100-jährigen Handwerksgeschichte abbrechen.
Mit grossem Interesse wende ich mich jetzt dem neuen Ort zu,
schleiche wie ein Hund um die Gebäude, schnuppere, fotografiere, suche
Übersicht innerhalb der verschachtelten Bauten. Ich freunde mich mit
diesen alten Gebäuden an, suche nach Spuren ihrer Geschichte.
An einem fix verschlossenen Stalltor fand ich einen Hinweis auf Welti-Furrer, der mich berührte:
„Gegründet 1838–1988, 150 Jahre Welti Furrer, Stallungen 1925–1963.“
Welti Furrer war und ist für Zürich und auch international ein Begriff. Der Firmengründer Jakob Furrer
figuriert denn auch auf der Liste „Persönlichkeiten der Schweiz“ in der
Rubrik „Berühmte Schweizer Unternehmer und Firmengründer seit 1150“.
Die Fuhrhalterei entstand schon 1838.
Ich kann mich gut an die Plakate dieses Unternehmens erinnern. Auf
dem Schulweg gab es eine niedrig angebrachte Plakatwand beim Tramdepot Escher Wyss.
Da sahen wir die Bilder auf Augenhöhe, und diese prägten sich ein. Ganz
besonders in Erinnerung ist jenes virtuos gemalte Bild mit 2 trabenden
Fuhrwerkpferden. Dass es nach Jahrzehnten nochmals aufgehängt wurde, war
vielleicht ein Abschiedsgeschenk an die Bevölkerung von Zürich, als das
Unternehmen 1993 in andere Hände überging.
Jetzt haben wir noch eine grosse Aufgabe vor uns. Die Gestaltung
der Umzugsanzeige mit den Anfahrtswegen aus allen Himmelsrichtungen
inkl. öffentlichem Verkehr.
Für unsere neue Adresse sind die Beschilderungen dürftig. Es fehlt
mir das offizielle Haus-Nummernschild. Dann habe ich erfolglos nach dem
Strassenschild „Pfingstweidstrasse“ gesucht. Nach meiner
Auffassung sollten an jeder grösseren Kreuzung die wegführenden Strassen
beschriftet sein. Das ist hier nicht der Fall. Wohl ist das Parkhaus
mit „Pfingstweid“ beschriftet, aber der Fussgänger kann sich nirgends
orientieren. Seit dem 9. Juni 2009 herrscht zudem Baustellen-Verkehr.
Die Pfingstweidstrasse, eine städtische Expressstrasse, wird um- und
eine neue Tramlinie eingebaut. Entfernt wurde eine schützende Insel in
der Mitte des Fussgängerstreifens. Und mit ihr verschwand die auf einer
Metallstange platzierte offizielle Strassentafel „Pfingstweidstrasse“.
Gestern habe ich bei Herrn Schenk am Fenster seiner Werkstatt die
Nummer „23“ entdeckt. In grossen Lettern, sauber und frisch. Sie sprach
mich von weit her an. Er muss beobachtet haben, wie ich nach
Orientierungsmöglichkeiten suchte. Ich hatte ihn auch darauf
angesprochen. So ist das in den Industriebrachen. Die vorherige Ordnung
zerfällt. Da heisst es für uns: Hilf dir selbst.
Die Pfingstweidstrasse als solche ist für Autofahrer gut bekannt. Auch das Parkhaus trägt, wie erwähnt, diesen Namen. Und von Johann Buob
(geb. 1893), dem letzten Bauern im Stadtkreis 5 unterhalb des
Escher-Wyss-Platzes, weiss ich, woher sich dieser Name ableitet. Man
nannte die Wiese so, weil die Kühe zu Pfingsten dorthin auf die Weide
getrieben wurden.
Von Weiden sehe ich hier keine Spuren mehr. Auch das
Schrebergartenareal, das an die Geroldstrasse anlehnte, ist zur
Baustelle geworden.
Uns gegenüber, im Maag-Areal, befindet sich die mittlerweile
berühmte Fabrikhalle, die als Music- und Eventhall benützt wird und
vielleicht stehen bleibt. Andere Gebäude auf diesem Terrain wurden schon
abgebrochen, damit der Prime Tower heranwachsen kann. Hier befindet
sich vermutlich die verrückteste Baustelle von Zürich.
Sterbe- und Werdeprozesse auch im Toni-Areal (vormals:
Milchverarbeitungszentrale) im Förrlibuck. Dort soll ein
Hochschul-Campus für ungefähr 5000 Studierende entstehen.
Und wir in den alten Stallungen, was blüht uns noch? Wird das
Welti-Furrer-Areal eines Tages vielleicht in den Bereich der
schützenswerten Bauten aufgenommen? Das könnte ich mir vorstellen. Was
würde das für uns wohl heissen? Das grosse Hauptgebäude, eine Art
vornehmer Fabrikbau, und die im rechten Winkel zurückversetzten
Stallungen sind eine Einheit, haben Stil und erzählen Geschichte. Auch
das Logo an der Fassade von Welti-Furrer, das geflügelte „W“ ist ein Unikat und steht für Qualität.
Mein Bruder Georg, einiges jünger als ich und mit einem
Zukunftsblick ausgestattet, der ihm meist Recht gibt, hat begeistert
reagiert, als er von unserem Glück erfuhr. Das sei ja total „Metropolitan aera“. Dieser neue Platz müsse man definitiv in die Kategorie „Smarter West End Schreinerei Lifestyle“
einordnen. Primo werde wohl in Kürze nach China und Russland liefern,
wenn die Touristen bei der Lorenzetti-Schenk(e) landeten ...
Das sind Aussichten ... In erster Linie aber geteilte Freude. Noch
ist es nicht so weit, dass Zürich mit seinen Towers grossstädtisch
brillieren kann. Wir freuen uns im Moment hauptsächlich darüber, dass
uns ein neuer Werkplatz zugefallen ist. Alles Weitere nehmen wir
„vorzuä“ (eins nach dem andern).
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