Ich sah die SBB-Angestellte vom Schalter aus, als sie mit meinem
gelben Rucksack durch den Korridor daher kam. Sie hob ihn in die Höhe,
und ich konnte sofort zustimmen: „Ja, er sei es!“ Da waren wir
erleichtert. Primo hatte ihn auf der Reise in der S-Bahn auf der
Strecke Luino–Bellinzona liegen gelassen. Heute denke ich dazu: Der Sinn
der Aufregung sei vielleicht dieser Beitrag im Blogatelier, damit viele
Reisende über den neuen Fundservice der SBB informiert werden.
Der Schwiegersohn hatte sofort eine entschuldigende Erklärung.
Primo hätte sich eben so sehr um seine kleine Tochter Nora gekümmert.
Das habe ihn abgelenkt.
Primo trug an jenem Mittwoch den leichten Rucksack auf dem
Spaziergang durch den Markt in Luino am Rücken, legte ihn dann für die
Rückfahrt in der S-Bahn ins Gepäckfach über unseren Sitzen und plauderte
spassend mit Mitreisenden. Die Enkelin Nora, deren Kinderwagen
er während des Ausfluges chauffierte, war eingeschlafen, der Wagen
gesichert. Er war frei und wie immer in Italien von diesem Land seiner
Vorväter bewegt. Licht, Lebensweise, Kunst und Architektur beflügeln ihn
hier mehr als anderswo. Und die Lebensfreude drückt sich dann in
allerlei verbalen Spässen aus.
Unser Schwiegersohn hatte wohlweislich sein Auto schon in Maccagno
abgestellt. In Luino darf am Markttag (jeden Mittwoch von 9 bis 16.30
Uhr) nicht mit freien Parkplätzen gerechnet werden. Wir fuhren deshalb
die letzten beiden Streckenabschnitte mit der S3 und erreichten den
international bekannten und für mich legendären Markt auf kurzem Weg vom
Bahnhof her zu Fuss.
In Luino werden sowohl Textilien aller Art wie auch
Lebensmittel-Spezialitäten und allerlei Haushaltartikel angeboten. Wir
liessen uns treiben, kauften dies und das. Nicht wirklich Nötiges, aber
Dinge, die uns an einen schönen Ausflug erinnern werden. Wir schleckten
Gelati und hörten den indianischen Musikern zu. Wir beobachteten die
Polizei, wie sie die Papiere der Musikanten prüfte. Die 6-jährige Mena
hat diesen Auftritt ganz genau beobachtet. Die attraktiven Uniformen
der Carabinieri imponierten ihr. Dann setzten wir uns wieder in die Bahn
und fuhren dem tiefblauen Lago Maggiore entlang nach Maccagno zurück.
Kaum waren wir wieder beim Auto angelangt, bemerkten wir, dass der
Rucksack fehlte, also alleine weiter reiste. Sofort begann ein Wettlauf
nach ihm. Fahrt nach dem schweizerischen Magadino-Vira, wo wir den
Verlust melden wollten. Der Bahnbeamte konnte uns verstehen, aber nur
mühsam auf Deutsch antworten. Er schickte uns nach Bellinzona. Frauen
und Kinder wurden in die Ferienwohnung zurückgefahren und die Männer
reisten sofort dorthin.
Zu spät. Alle im Zug liegen gelassenen Gegenstände würden jeweils
an der Endstation sofort eingesammelt und nach Bern weitergeleitet. Die
Männer erhielten einen Prospekt mit der Internetadresse www.sbb.ch/fundservice und
die Aufforderung, den Verlust dort anzumelden. Mehr konnte der Mann
nicht für sie tun. Primo kam etwas zerknirscht nach Hause. Wir hatten
nicht nur persönliche Dinge verloren, sondern auch eine wertvolle Jacke
unserer Tochter und ebensolche von den Kindern. Von einer Sammelstelle
in Bern und wie diese funktioniere, wussten wir in jenem Augenblick noch
nichts. Die Abwicklung erschien uns umständlich.
Unserem Schwiegersohn, einem Sprachwissenschaftler, hatte aber das
Gespräch am Schalter gefallen. Die Mischung von gutem Deutsch und
italienischem Sprachklang.
Am Abend dann, als Ruhe ins Haus eingekehrt war, füllte unsere Tochter Felicitas
das Computer-Formular aus. Wir beantworteten alle von den SBB
gestellten Fragen und beschrieben die Gegenstände, die sich im Rucksack
befanden. Wir konnten im SBB-Fahrplan im Internet auch die Zugs-Nummer
ausfindig machen und korrekt bekanntgeben. Dann liessen wir das
Suchformular los.
In der Nacht fiel mir ein, dass ich auf dem Markt doch noch 2
Küchenschürzen gekauft habe, die in unserer Verlust-Liste fehlten.
Anderseits fand ich einen kleinen Küchenartikel in meiner Handtasche,
den ich dem Rucksack-Inhalt zugeordnet hatte. Felicitas machte mich
aufmerksam, dass das eingereichte Protokoll ergänzt werden dürfe. Ich
war erleichtert, dass man mit etwas Aufregung rechnete und einen
Nachtrag ermöglichte.
Kaum hatte sie diesen abgeschickt, bekamen wir die Antwort, es sei
nicht mehr möglich, das Protokoll zu ändern, denn der verlorene
Gegenstand sei bereits gefunden worden. Da freuten wir uns wieder und
tauten auf.
Ich rief später noch die aufgeführte Telefon-Nummer an und
erkundigte mich nach dem weiteren Vorgehen. Nach der Rückkehr nach
Zürich würde ich in meinem Computer eine Bestätigung vorfinden, mit der
ich den Rucksack im Bahnhof Altstetten auslösen könne.
Ich dankte und äusserte mich erfreut über die bisher unbekannte und
für uns im ersten Moment undurchsichtige Abwicklungs-Methode. Die
freundliche Sachbearbeiterin sagte: Eine solche Lösung habe sich
aufgedrängt. Die SBB würden täglich Tausende von Fundgegenständen
einsammeln. Unglaublich.
Primo hängte den Rucksack gleich wieder an seinen Rücken, nachdem
er uns am Bahnschalter von Zürich-Altstetten ausgehändigt worden war.
Auf der Heimfahrt mit den Velos wurde ich unruhig. Der Rucksack war
nicht mehr prall gefüllt. Es schien etwas zu fehlen. Und so war es dann
auch. In Luino kauften wir an einem Marktstand ein sehr grosses Stück
Brot. Es wurden dort Brote von der rechteckigen Fläche eines normalen
Küchentisches angeboten. Dieses Brot haben wir nicht mehr erhalten. Ich
vermute, dass alle Lebensmittel rigoros aussortiert werden, um Fäulnis
zu verhindern. Mit hartem Brot hätte ich zwar noch etwas anfangen
können. Ein roher Fisch, Frischkäse, rohes Fleisch oder mit Vanillesauce
gefüllte Gebäcke aber würden Probleme verursachen. Die Abwicklung also
optimal.
Innert 5 Tagen hatten wir unseren Rucksack zurück erhalten.
Unkosten Fr. 5.— für Inhaber eines Halbtaxabos. Ohne einen solchen
Ausweis kostet die Aktion Fr. 10.—.
An jedem Bahnschalter liegen jetzt Flyers auf, die zusätzlich zu
den beschriebenen Erfahrungen das neue „easyfind“–System der Bahn
erläutern. Dieses wirkt vorbeugend, damit Verlorenes zurückkommt wie ein
Bumerang.
Jetzt habe ich nur noch eine Frage: Was machen ältere Leute ohne
Computer, wenn sie etwas liegen gelassen haben? Können sie ihre Anfrage
per Telefon aufgeben? Die Rail Service Nummer, die ich bekommen habe,
lautet 0900 300 300 (CHF 1.19/Min). Mit ihr traf ich sofort ins
Fund-Verarbeitungszentrum.
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