Die Geschichte vom „Geheimnis der Maismutter“ hat mich bestimmt
schon vor 17 Jahren berührt, sonst hätte ich den Text aus dem
„Brückenbauer“ vom 25.09.1991 nicht aufbewahrt. Er ruhte im grossen
Märchenbuch, das ich kürzlich hervorholte. Als ich es öffnete, fiel die
„Junior“-Seite dieser Zeitung gleich zu Boden und machte mich neugierig.
Es handelt sich um eine Geschichte aus der indianischen Mythologie.
Sie spielt in einer Zeit des Hungers, als Nahrung mühsam gesucht werden
musste.
Sie ist mir zum richtigen Zeitpunkt zugefallen. Ich beobachte doch
seit ein paar Wochen, wie sich das Maisfeld auf dem Weg zum
Pestalozzi-Hof entwickelt. Mittlerweile sind mir die Pflanzen schon über
den Kopf gewachsen und bilden eine Front zur Strasse hin. Da schaue ich
dann in ihre Räume und den inneren Wegen entlang.
Als ich die Geschichte gelesen hatte, waren die Maispflanzen noch
nicht so weit entwickelt, dass ich die Ansätze der Kolben und die
Haarbüschel hätte finden können. Ich suchte täglich nach ihnen und
freute mich riesig, als ich sie endlich fand.
*
Nun will ich das Märchen nacherzählen: Da soll eines Abends eine
armselige Alte mit weissen Haaren in einem Lager angekommen sein. Sie
war niemandem bekannt und wurde kaltherzig abgewiesen. „Verschwinde!“ hiess es. „Hier ist kein Platz für dich.“
Auch in anderen Siedlungen war sie unerwünscht. Man jagte sie unwirsch
davon. Erst bei den sehr armen und bedürftigen Menschen des
Alligator-Clans wurde sie freundlich aufgenommen. Sie durfte ausruhen,
sich stärken und neben dem Feuer schlafen.
Anderntags gingen die Männer des Clans auf die Jagd, und die Frauen
suchten nach Beeren und Wurzeln. Die Alte betreute in dieser Zeit die
Kinder und kochte für sie. Einer der Knaben konnte die köstliche Speise,
die sie ihnen vorsetzte, nie mehr vergessen, auch als die Alte nach
einer gewissen Zeit so geheimnisvoll verschwand, wie sie vorher
erschienen war. Eine Zeit lang suchten Männer und Frauen noch intensiv
nach dieser geheimnisvollen Nahrung. Sie fanden aber nicht die geringste
Spur. Darum wurde sie wieder vergessen.
Nach Jahren, als aus dem Knaben ein Krieger geworden war, machte er
sich auf die Suche nach der Alten, die bei ihnen eingekehrt war. Als
einziger hatte er sie nie vergessen. Obwohl er nicht wusste, dass es die
Maismutter selbst war, die in armseliger Gestalt auf die Welt gekommen
war, suchte er unentwegt nach ihr. Und eines Tages erschien sie ihm, um
ihn den Maisanbau zu lehren.
„Brenne das Gras ab, bis nur noch die Asche übrig bleibt. Dann
nimm mich bei den Haaren und schleife mich kreuz und quer über die
verbrannte Erde!“ befahl sie. Sie prophezeite, dass danach neues
Gras aus dem Boden spriessen und er zwischen deren Blättern ihr Haar
finden werde.
Sofort machte er sich an die Arbeit. Er schleifte die Alte über die
ganze Lichtung. Überall, wo sie die Erde berührt hatte, wuchs bald das
seltsame Gras. Es wurde so hoch, dass es ihn überragte. Und zwischen den
Blättern sah er tatsächlich Büschel von weissen Haaren. Er konnte ihr
offenbar gar nicht danken, denn es heisst, als er die vorgeschriebene
Arbeit getan hätte, sei die Frau aus seinen Händen entschwunden.
Seitdem ich diese Geschichte kenne, ist das Maisfeld für mich
beseelt. Ehrfürchtig stehe ich jetzt da und betrachte die Veränderungen,
die täglich zu beobachten sind.
Im Text von der Maismutter wird von weissen Haaren geredet. „Meine“
Maispflanzen tragen entweder leicht grünliche Haare, entsprechend der
Farbe des Stengels, viele aber rote Haare. Im Anfangsstadium waren sie
so rot, wie natürlich rote Menschenhaare. Jetzt sind sie bereits
dunkelrot. Ob die grünlichen auch rot werden, weiss ich noch nicht.
Als ich die ersten Haarbüschel entdeckte, waren sie alle noch jung
und zart und zwischen Stengel und Blatt geborgen. Wie junge Liebe,
empfand ich dieses Stadium.
Die Pflanzen halten sich mit starken Krallen, Fingern oder Zehen
ähnlich. Nicht wie die üblichen Wurzeln, bleiben sie oberhalb der Erde
und sorgen für das Gleichgewicht. Ungewöhnlich schön ist ihr Auftritt.
Ganz nahe am Stengel weisen diese Halterungen einen oder zwei dunkelrote
Farbkränze auf.
Wenn ich in die Räume dieses Pflanzenwaldes schaue und dort die
Haarbüschel finde, wirken sie auf mich wie Figuren eines Puppentheaters.
Könnte ich doch ihre Sprache verstehen!
Gerne wüsste ich dann von ihnen oder noch besser von der Maismutter
selbst, wie sie den gentechnisch veränderten Mais erlebt. Wurde sie
durch deren Eingriffe amputiert? Kann sie überhaupt noch zu uns
sprechen? Besitzen Menschen, die den Pflanzen solche Eingriffe
verpassen, keine Ehrfurcht vor dem Leben? Ich befürchte es.
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