Während ich im Garten das rote Manchesterhemd an die Wäscheleine hänge,
schwirren meine Gefühle und Gedanken schon in der Banlieu von Paris
herum, denn dort wurde es seinerzeit gekauft. Sofort befinde ich mich in
Ferienstimmung, erinnere mich an viele Einzelheiten unseres 10 Jahre
zurückliegenden Besuches in Saint Denis.
Ich fühle mich immer wieder beschenkt, wenn Gegenstände oder Gerüche
urplötzlich Erinnerungen ins Bewusstsein bringen. Solche Augenblicke
sind echte Rückführungen, und diese geniesse ich. Meist sind es schöne
Erlebnisse, die ich nachempfinden darf. Obwohl ich weiterhin Wäsche
aufhängte, war ich abwesend. Der Körper da, Empfindungen und Gedanken
auf Reisen. Über 600 Kilometer weit weg.
Zurückgekommen sind sie, als alle Wäschestücke aufgehängt und der Korb
leer geworden war. Da entdeckte ich auf dem weissen Leintuch einen
Zitronenfalter. Er musste soeben hier gelandet sein. Seine Flügel
bewegten sich noch. Ich schaute ihm zu und dachte: Wir zwei sind
Wesensverwandte. Auch ich flattere ja, wie vorhin, in der Weltgeschichte
herum. Auch ich lasse mich von Reizen verlocken. Verweilen ist nicht
immer unsere Sache. Immer drängt es uns weiter. Selbstverständlich
kommen auch wir wieder an unsere Ausgangsorte zurück. Aber wir verfolgen
nicht nur ein lineares Ziel. Wir besuchen viele Orte, aus
unterschiedlichen Gründen zwar, aber mit derselben Unruhe. Und wir
lassen uns ablenken.
Der Falter flog dann weg. Ich habe ihn rasch aus den Augen verloren.
Aber das Leintuch war noch da und flatterte im Wind. Und schon malte ich
mir aus, wie es sich anfühlen wird, wenn ich mich am Abend darin
einhülle. Es ist eines aus jener alten Qualität, die sich rauh anfühlt.
Es raschelt, wenn ich mich zudecke. Würde ich es bügeln, verlöre es
diesen Effekt. So unbehandelt, spüre ich dann in der Nacht noch die
Sonne und den Wind, die es trockneten. Wie in meiner Kindheit, als die
Betten noch jeden Frühling gesonnt wurden.
Man trug sie ins Freie. Decken wurden geschüttelt und der Sonne
ausgesetzt, Gestelle gereinigt und poliert. Die Matratzen mit dem
Teppichklopfer geklopft. Zimmer und Fenster wurden ebenfalls einer
Generalreinigung unterzogen. Das Resultat: Die absolute Frische. Das
vorher beschriebene Leintuch ist nur ein kleiner Aspekt davon.
Dora, eine Verwandte, hielt bis zu ihrem Tod vor 2 Jahren an
dieser Ordnung fest. Auch über ihren 80. Geburtstag hinaus musste der
traditionelle Frühjahrsputz in immer gleicher Manier vollzogen werden.
Solange ich sie gekannt habe, machte sie alles so, wie sie es von ihrer
Mutter gelernt hatte. Wollten wir ihr diese schwere Arbeit ausreden oder
ihr helfen, verwies sie uns auf die Pflicht. Die Mutter hätte es immer
so verlangt. Im gleichen Sinne blieb sie ihrer wunderschönen Sprache
treu. Da gab es keine Anpassungen an unsere Zeit, keine Modeworte, keine
Einsprengsel aus anderen Sprachen. Der von ihr gesprochene
Zürcher-Oberland-Dialekt blieb zeitlebens unverfälscht, reich an
Bildern, eine Geschichte für sich. Manchmal fühlte ich Heimweh, wenn ich
sie sprechen hörte. Sie machte mir bewusst, was ich zurückgelassen
habe, als ich mit den Eltern in die Stadt umzog.
Dora gehörte zu den Bedächtigen und Getreuen. Sie wurde oft als
schwerfällig empfunden, hat uns aber immer wieder gezeigt, wie wichtig
auch ihre Gattung ist. Wer anders würde uns denn noch von den Vorfahren,
ihren Erfahrungen und ihrem Weltbild erzählen?
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