
Im Zürcher Hauptbahnhof sorgt der Leitsatz „Links gehen, rechts stehen“ dafür, dass die Eiligen auf der Rolltreppe schneller vorwärts kommen. Diese Regel funktioniert gut und sorgt dafür, dass die Pendlerströme ungehindert fliessen können. Der Bahnhof will kein beschaulicher Aufenthaltsort mehr sein.
Früher trafen sich im Bahnhof die Fremdarbeiter, wie Migranten damals genannt wurden. Hier seien sie ihrer Heimat am nächsten, wurde uns erklärt. Heute ist die Bahnhofhalle aber kein gemütlicher Dorfplatz mehr. Er muss Geld einbringen. Die Halle wird zeitweise vermietet. Es finden hier viele Veranstaltungen und im Dezember der Weihnachtsmarkt statt. Ich liebe die Zwischenzeiten, wenn die Halle leer ist, wenn ich sie diagonal durchqueren kann. Nur dann ist sie in meinem Augen eine richtige Schönheit.
Und ich vermisse immer noch die Sitzbänke an der linken Seitenwand der Billettschalterhalle. Bevor die ins Untergeschoss führende Rolltreppe gebaut wurde, konnte man dort warten oder sich ausruhen. Mit Blick zu den Perrons. Eine gewisse Übersicht über die Ankommenden und Abreisenden war da gegeben. Es arbeiteten damals noch die Porteure, die auf Schubkarren schwere Koffer und Taschen zu den Bahnwagen führten. Ihnen schaute ich gern zu. Auf einer solchen Bank zu sitzen und jemanden zu erwarten, weckte Lebensfreude und Reiselust.
Die beschauliche Atmosphäre verschwand langsam, zuerst kaum merklich, doch stetig. Die Errungenschaften der Technik gaben plötzlich allen Lebensbereichen Schub. Es konnte mehr aus ihnen herausgeholt werden. Das Wort „ausreizen“ kam auf.
Ausscheren ist nicht möglich. Alle wurden wir von der Beschleunigung erfasst und gezwungen, deren Gesetze zu respektieren. Alles muss fliessen. Nicht nur im Hauptbahnhof, nicht nur im Verkehr und am Arbeitsplatz. Auch die Familie wird von dieser neuen Energie erfasst. Schon die Kinder sind gehetzt. Ein Programm löst ein anderes ab. Eile mit Weile hat sich zu Eile und Hast verwandelt, weil vieles möglich geworden ist.
Im Dezember 2012 zeigte mir eine der Töchter sogar die schnellste Weihnachtskarte der Welt. Abgebildet war der aus dem Himmel herabstürmende Weihnachtsmann mit seinem Gefährt. Die Illustration entstand in einem Sportwagen während der Fahrt auf einer Rennstrecke in Frankreich. Aussergewöhnlich, aber auch ganz natürlich zeichneten die verwackelten Striche das überrissene Tempo des Gefährts.

Mit „Tempo Tüüfel“ (des Teufels Tempo) hätte man dieses Bild vor Jahrzehnten vielleicht betitelt, denn alles, was damals unerklärbar schien, musste aus des Teufels Küche stammen.