Carpe diem. Diese lateinische Redewendung, deutsch: „Nütze den Tag“,
bewegte sich am Morgen des 23.11.2009 auf meinem Bildschirmschoner, als
der Computer eine Weile ruhte. Die Botschaft kam an, bewegte mich. Ich
war angesprochen und überlegte mir, wie ich sie an jenem Tag umsetzen
könnte.
Wie nütze ich diesen neuen Tag? Bis anhin verstand ich diesen Rat
immer dahingehend, dass die anstehende Aufgabe ohne Trödeln angegangen
werden soll. Gründlich, zuverlässig. Die Lebenszeit nicht verschwenden.
Zum ersten Mal kam ich vor einigen Jahrzehnten im Tessin mit diesem Text
in Berührung. Ein befreundeter Architekt hatte uns zu sich eingeladen.
Er baute ein Rustico zu einem behaglichen Wohnhaus um und wollte seine
Freude an diesem Ort und seiner Arbeit mit uns teilen. Er holte uns an
der Postautostation ab und führte uns zu seinem Haus. Bevor wir
eintreten durften, blieb er stehen und machte auf die Tafel neben der
Haustür aufmerksam. „Carpe diem“ lasen wir. Das war sein Programm zur
Auferstehung dieses alten Steinhauses, einer Art Ruine. Und er folgte
ihm und hatte auch Erfolg. Ich sah, wie fleissig und gründlich er
arbeitete. Jede Woche vertauschte er die Schreibtisch- mit der
körperlichen Arbeit. Er bestätigte damals, dass ich das Wort recht
erfasst hatte.
Aber heute Morgen war es anders. Beim Frühstück war es noch Nacht.
Während wir die Zeitung lasen, wich das Dunkel langsam. Ich öffnete das
Fenster, schnupperte die Luft und sah einen freundlichen Himmel,
hellblau, aber mit weichen Wolkenfetzen überzogen. Von den Bäumen
strahlten mich noch bräunliche Blätter an. Viele waren schon abgefallen.
Ein kühler Wind rüttelte an den Ästen und schüttelte verbliebene
Blätter und noch viele Samenflügel ab. Diesen natürlichen Propellern
zuzuschauen, macht mir immer wieder Spass. Noch ist es mir aber nicht
gelungen, sie zu fotografieren. Sie sind schneller als ich und mein
Apparat.
Plötzlich wusste ich, wie ich die nächste Stunde dieses Tages
sinnvoll nützen könnte: Nochmals nach dem Herbst ausschauen, bevor er
sich endgültig verabschiedet. Also: Windjacke anziehen und auslaufen.
Meine Zellen mit Licht füllen. Den Herbst nochmals einfangen und die
Bilder als einen immateriellen Wert als Winterproviant in mir einlagern.
Im Schulhaus Loogarten war gerade Pause. Die Kinder
tummelten sich draussen. Sie lachten und schrien. Sie verströmten
Energie. So auch der Wind, der nebenan die Hängebirke mit ihren langen
Haaren übermütig schüttelte. Es beflügelten mich beide. Kinder und Wind
erfassten mich mit ihrem Temperament.
Auf dem Römerhügel hatte der Wind sein Werk schon getan. Die beiden
Linden sind jetzt entlaubt, zeigen ihre wohlgeformte Statur. Jetzt ist
gut auszumachen, dass sie nicht derselben Familie angehören. Ein schönes
Paar. Vielleicht Mann und Frau.

Auf dem weiteren Weg knipste ich Bilder von der Berberitze. Hier
dominierte Rot und Grün auf himmelblauem Hintergrund. Farben sprühten
auch die japanischen Zierkirschenbäumchen vor der blauen Schulhauswand.
Auf Schlierenberg war der Wind so stark, dass er mich hindern
wollte, voranzukommen. Es gefällt mir, wenn ich mich gegen ihn stemmen
muss. Vielleicht gefällt es ihm auch, uns anzufahren und Staub
aufzuwirbeln. Hier scheuchte er die Blätter auf. Einige schwebten eine
Weile und fielen dann hin. Andere wurden zu Rädern, obwohl sie nicht
rund gewachsen sind. Sie folgen den ihnen innewohnenden Gesetzen, und
diese haben mit mir persönlich nichts zu tun. Und doch lasse ich mich
ganz gerne auf ihre scheinbaren Spiele ein.
Hier oben schien die Sonne und warf ihr Licht auf ein grünes Feld,
auf eine Wintersaat. Obwohl diese weder verregnet war, noch Tau trug,
fingen die Sprösslinge das Licht als goldene Flecken auf. Am Waldrand
grüssten die Lärchen mit fahlem Gelb, sehr geheimnisvoll.
Auf dem Heimweg schien mir die Sonne ins Gesicht. Es war schwierig,
die Alpen zu fotografieren. Weisse Wolken deckten Teile des
Alpenkranzes ab. Dieses Gegenlicht verzauberte noch einige Büsche und
Bäume, an denen nur noch wenige Blätter hingen.
Mit jedem Jahr betrachte ich die Farben der Natur mit offeneren
Augen. Jede Blume ist noch schöner als ich sie schon gekannt habe. Das
muss eine Alterserscheinung sein. Und mit denselben Augen will ich auch
durch den Winter gehen.